„Wir leben ‚Eintracht in der Region‘“
„Eintracht in der Region“ in Neukirchen, wo der SCN vor 30 Jahren den größten Erfolg der Vereinsgeschichte feierte, gegen die U23 von Eintracht Frankfurt. Im Gespräch mit den damaligen Protagonisten Rudi Bommer, Matthias Hagner sowie Durmus Özcan und Julian Klangholz, einem „Fan“ beider Klubs, geht’s natürlich um die Eintracht – in der Region, am Riederwald und in der Champions League.
Interview: Michael Wiener
Fotos: Andreas Wolf
Die Gesprächspartner:
Rudi Bommer (68): Über 1.000 Spiele als Spieler und Trainer im Profibereich, in beiden Funktionen auch bei der Eintracht. Führte 1995 die U23 in die Regionalliga, gleichzeitig war er noch Spieler bei den Profis. Heute Tradispieler und Trainer in der Fußballschule.
Matthias Hagner (51): Deutscher U17-Meister 1991 mit der Eintracht, Aufsteiger mit der U23 1995, insgesamt fünf Jahre Adlerträger. 102 Bundesligaspiele für die Eintracht, Stuttgart und Mönchengladbach. Heute Sportpsychologe bei der TSG Hoffenheim.
Durmus Özcan (53): Spielte bei der Eintracht in der Jugend und wechselt 1994 für fünf Jahre nach Neukirchen. Heute Geschäftsführer Vertrieb & Marketing in einem
Elektronikunternehmen.
Julian Klagholz (38): Aufgewachsen und wohnhaft in Neukirchen, beim SCN auf und neben dem Rasen aktiv. Eintracht-Fan seit Kindheitstagen.
Neukirchen im Schwalm-Eder-Kreis, Steinwaldstadion. Im Rahmen von „Eintracht in der Region“ haben sich gerade die Traditionsmannschaft der Eintracht und die Ü40 des heimischen Sportclubs duelliert. Rudi Bommer und Matthias Hagner haben auf dem Platz gestanden; „bei mir macht das Knie nicht mehr mit“, sagt Durmus Özcan. Das Trio war 1995 dabei, als sich der SC Neukirchen und Eintrachts U23 im Entscheidungsspiel um den direkten Aufstieg in die Regionalliga in Gießen gegenüberstanden, der SCN siegte 4:0. Als Achtjähriger im Stadion mit dabei war Julian Klagholz, der in Neukirchen aufgewachsen ist und seit über drei Jahrzehnten auf und neben dem Platz beim SCN aktiv ist.
Schauen wir zunächst 30 Jahre zurück. Matthias, wie sind deine Erinnerungen an das Entscheidungsspiel um die Oberliga-Meisterschaft 1995 in Gießen?
Matthias Hagner: Das Spiel war für mich besonders. Ich bin Gießener, habe viele Freunde und Familie dort. Das Ergebnis – 0:4 – war natürlich ernüchternd für unsere Jungs, das war eine Klatsche. Wir hatten sehr viele junge Spieler. Viele haben parallel bei den Profis trainiert und bei der U23 gespielt. Das ist für Spieler und Trainer nicht einfach zu handhaben. Gegen Neukirchen war das ein Thema, der Gegner war doppelt motiviert. Unterm Strich war es trotzdem eine tolle Saison, weil wir dann über die Relegation aufgestiegen sind.
Rudi, wie hast du diese Saison erlebt als Trainer der U23?
Rudi Bommer: Tisi [Matthias Hagner; Anm. d. Red.] hat absolut recht, weil es immer schwierig ist, auch als Trainer zu handeln, zwischen hoch und runter. Wenn die oben trainiert haben und dann zu uns runterkommen, denken sie manchmal, sie sind besser, bringen aber ihre Leistung dann doch nicht so auf den Platz. Die Saison war trotzdem überragend. Unsere Mannschaft hatte ein Durchschnittsalter von 20,5 Jahren, der SC Neukirchen hatte eine gestandene Truppe, die sehr robust zur Sache gegangen ist. Dann hatten wir ein Endspiel, da kannst du auch mal verlieren. Wir hatten aber eine zweite Chance und durften in Sandhausen gegen den VfR Pforzheim spielen. Wir haben 3:1 gewonnen und sind auch in die Regionalliga aufgestiegen. Für Tisi war das die Wende. Du hast alle drei Tore gemacht, oder?
Hagner: Richtig.
Bommer: Du hast dann so eine Leichtigkeit bekommen und warst nicht der Einzige, der es zu den Profis geschafft hat und dann auch sehr gute Spiele gemacht hat. Zwei Tore gegen die Bayern zum Beispiel. Oka hat danach ewig für die Eintracht gespielt. Erol Bulut war bei mir, er ist heute Trainer in der Türkei. Das sind Jungs, die gezeigt haben, dass sie die Ellenbogen ausfahren können. Das fehlt mir manchmal heute etwas bei den jungen Spielern. Aber es gab auch damals welche, die es nicht verstanden und sich zu sehr ausgeruht haben.
Matthias, Rudi hat die Wende bei dir angesprochen. Was meint er?
Hagner: Ich war die ersten zwei Jahre Jungprofi in einer unfassbar tollen Mannschaft, mit Toni Yeboah, Maurizio Gaudino, Manni Binz, Uwe Bein und vielen mehr. Eine Top-Mannschaft, mit der wir eigentlich um Titel mitspielen wollten. Ich war als junger Profi zu ungeduldig. Ich hatte die ersten zwei Jahre fünf Einsätze. Das war mir damals zu wenig. Heute hätte ich gesagt: Das war super, dass ich überhaupt fünf Mal spielen durfte. Ich habe schon überlegt, ob ich in meiner Heimat in Gießen ein Studium anfange. Dann kam das Spiel in Sandhausen, ich habe drei Tore gemacht. Danach habe ich mich mit Holz [Bernd Hölzenbein, damals Manager; Anm. d. Red.] zusammengesetzt und wir haben gesagt: Ein Jahr probieren wir es nochmal, ich habe nichts zu verlieren, studieren kann ich danach immer noch. In der Saison 1995/96 habe ich in 26 Bundesligaspielen zehn Tore gemacht. Das sind Geschichten, die der Fußball schreibt. Das sind Kleinigkeiten. Vielleicht auch Glück, dass ich nachher ein bisschen Karriere machen konnte. Hätten wir schon gegen Neukirchen gewonnen, wäre vielleicht alles anders gekommen.
Bommer: Er hat sich kontinuierlich verbessert. Ich habe seinen Werdegang auch nach der Eintracht-Zeit verfolgt. Das machst du zwangsläufig, wenn du solche talentierten Jungs hast wie Tisi, Oka [Nikolov; Anm. d. Red.] und andere. Das hat er super gemacht. Die Tür zur Nationalmannschaft war zu dem Zeitpunkt für ihn leicht geöffnet.
Hagner: Ich sehe es ein bisschen anders (lacht). Ich habe später tatsächlich noch studiert, heute bin ich Sportpsychologe bei der TSG Hoffenheim. Ich war auf dem Höhepunkt meiner Karriere mit 24, 25 Jahren kurz vor der Nationalmannschaft und da war ich leider nicht mehr so fokussiert. Ich habe mich viel mit anderen Dingen beschäftigt, habe mich ablenken lassen und das hat vielleicht verhindert, dass ich noch mehr Bundesligaspiele gemacht habe. Ich hätte mir damals vielleicht einen guten Sportpsychologen gewünscht, der mich an die Hand nimmt.
Durmus, du hast auch bei der Eintracht in der Jugend gespielt, bist dann nach Neukirchen gewechselt.
Durmus Özcan: Genau. Der SC Neukirchen war damals ein aufstrebender Verein. Wir sind durch den Sieg gegen die Eintracht 1995 erstmals in die Regionalliga aufgestiegen, haben uns dort einige Jahre gehalten. Dann hat sich der Hauptsponsor zurückgezogen und ich bin wieder in die Rhein-Main-Region gegangen, nach Wehen. Es war eine coole Zeit in Neukirchen …
… auf einem ganz speziellen Sportgelände. Wir haben uns den mittlerweile stillgelegten Platz auf der Fahrt nach Neukirchen angeschaut, heute befindet sich dort ein Pump Track.
Özcan: Die Knüllkampfbahn war ein kleiner Sportplatz, die Zuschauer standen an der einen Seite auf einem Hügel. Bei 2.000, 3.000 Leuten war es richtig laut.
Julian, warst du 1995 schon beim SC Neukirchen?
Julian Klagholz: Ja, ich war als Achtjähriger in Gießen vor Ort. Die Eintrittskarte habe ich immer noch. Jay Jay Okocha, der auf der Tribüne gestanden hat, hat darauf unterschrieben. Ich weiß es noch wie heute. Ich bin unweit der Knüllkampfbahn aufgewachsen. Wir haben als Kinder hinter dem Tor gesessen und Konfetti geworfen, wenn ein Tor gefallen ist.
Nun sind wir mit „Eintracht in der Region“ beim SC Neukirchen im Steinwaldstadion zu Gast. Wie hast du den Eintracht-Tag mit rund 1.500 Menschen auf dem Platz erlebt?
Klagholz: Tolle Atmosphäre, ein schönes Spiel auf unserem neuen Kunstrasen, ein wunderbarer Tag! So ein Spiel vor so einer Kulisse hat es hier noch nicht gegeben. Ein würdiger Rahmen für dieses, nennen wir es mal Jubiläumsspiel.
Bommer: Wie ist es hier in der Region, sind die Menschen sehr nach Frankfurt beziehungsweise zur Eintracht orientiert?
Klagholz: Hier sind die Eintracht-Fans klar in der Überzahl. Zwei Ortschaften weiter sitzt der größte EFC Deutschlands, die Eintracht-Knüller haben weit über 1.000 Mitglieder.
Bommer: Auf dem Weg hierher haben wir wahnsinnig viele Menschen gesehen im Eintracht-Trikot.
Klagholz: Das war heute eine große Nummer, auch mit der Fußballschule, der Eventfläche und dem Stadionprogramm. Der ganze Ort war heiß.
Du sprichst das Konzept von „Eintracht in der Region“ mit den drei Säulen Fußballschule, Rahmenprogramm und Spiel mit einer unserer Mannschaften an. Rudi, du bist seit 2019 regelmäßig bei der Tradi dabei und hast fast alle Regionsspiele seit 2022 mitgemacht. Wie erlebst du als Spieler diese Hessentour?
Bommer: Erstmal muss man sagen, dass Charly [Karl-Heinz Körbel; Anm. d. Red.] das perfekt macht. Er hat die Idee zusammen mit LOTTO Hessen ins Rollen gebracht. Dazu führt er die Traditionsmannschaft wunderbar. Er hat die Kontakte mit den Spielern, er telefoniert alle ab, er holt immer mal wieder Neue rein wie zuletzt zum Beispiel Ioannis Amanatidis, er hält die Truppe zusammen wie eine Familie. Wir leben „Eintracht in der Region“ und Charly lebt es vor. Es sind fast ausnahmslos Ex-Profis dabei, wir haben weit über 50 Spieler im Kader. Alles Adlerträger! Das ist sensationell. Ein anderer Bundesligist hat seine Tradi abgemeldet, weil er nicht genügend Spieler hat.
Du bist 68 Jahre alt, gehörst meistens zu den ältesten Spielern auf dem Platz.
Bommer: Charly ist 70! Unsere Gegenspieler sind 30 Jahre jünger, stehen teilweise voll im Saft. Das ist nicht ganz einfach, da mitzuhalten. Das tut schon manchmal weh. Aber nochmal: Es macht riesigen Spaß, auch mit unserer Crew, die immer dabei ist. Wir spielen manchmal mit der Tradi vor 3.000 Zuschauern, der Schnitt ist über 1.500. Das ist richtig gut.
Alle Generationen sind bei so einem Eintracht-Tag vertreten.
Bommer: Wir machen Werbung am Kind für Eintracht Frankfurt. Wir sind zum Anfassen. Wir schreiben hier Autogramme, wir machen Bilder, einfach alles. Das macht es doch aus. Auch mit der Fußballschule, und das in ganz Hessen.
„Unsere Gegenspieler sind 30 Jahre jünger, stehen teilweise voll im Saft. Das ist nicht ganz einfach, da mitzuhalten. Das tut schon manchmal weh. […] Aber: Es macht riesigen Spaß!“
Rudi Bommer
Klagholz: Das können wir nur zurückgeben. Ich war in unserem Orga-Team. Das war rundum gelungen. Das erste Treffen, der erste Kontakt, die E-Mail-Korrespondenz, das hat alles jederzeit funktioniert. Alles, was angekündigt wurde, ist hier auch passiert.
Hagner: Ich arbeite das zweite Jahr bei der TSG Hoffenheim und fühle mich dort sehr, sehr wohl. Da habe ich das Thema Tradimannschaft mal anklingen lassen, weil ich immer gegenüber den Spielern schwärme, wie toll das hier ist und wie toll das die Eintracht macht. Ich habe das mal angeregt, dass wir darüber das Image des Vereins verbessern können.
Job im Kraichgau, Familie in Mittelhessen – du nimmst weite Wege auf dich, um bei der Eintracht dabei zu sein.
Hagner: Ich bin dankbar, dass ich hier mitspielen darf. Nach dem Abschlusstraining bin ich vorhin zweieinhalb Stunden nach Neukirchen gefahren, weil ich es hier einfach genieße. Diese Spiele sind wie Klassentreffen. Das tut mir unheimlich gut. Deswegen mache ich das gern und hoffe, ich kann noch ein paar Jahre dabei sein.
Lasst uns noch über die aktuelle Eintracht sprechen. Julian, du als Fan, wie gefällt dir das, was du aktuell siehst?
Klagholz: Ich bin Eintracht-Fan seit Kindesbeinen. Mein erster Stadionbesuch müsste 1994 gegen Freiburg gewesen sein. Wir haben verloren, aber ich bin seitdem trotzdem infiziert. Die aktuelle Entwicklung ist phänomenal. Die Eintracht ist vielleicht das, was der BVB in den 1990ern war. Die Kids werden Eintracht-Fans, weil der Verein erfolgreich spielt und eine super Tradition hat. Die Choreografie gegen Galatasaray war Wahnsinn. Das zeigt, dass nicht nur Tourismus in diesem Stadion stattfindet, wenn es immer ausverkauft ist, sondern dass auch was dahintersteckt. Wir haben schon oft gelitten mit der Eintracht, jetzt macht es natürlich mehr Spaß. Es ist eine super zusammengestellte Truppe, die marschiert. Ich glaube, dass der Eintracht in der Champions League einiges zuzutrauen ist. Sie hat auf jeden Fall Potenzial und es gibt immer noch Mario Götze, der in dieser Saison bis zu diesem Gespräch noch nicht so viel gespielt hat.
Özcan: Ich war Sportinvalide und habe schon vor meinem 30. Lebensjahr mein letztes Spiel gemacht. Ich gucke kein Fußball mehr, bis auf die Eintracht. Sie hat sich sehr, sehr positiv entwickelt. Gerade wenn ich sehe, wo und wie wir in den 1990ern trainiert haben und wie das heute ist. In Neukirchen waren alle wegen der Eintracht da und wegen der Verbundenheit zu den Spielern. Ich kannte dort mehr Spieler als bei Neukirchen. Eintracht ist hier in Hessen eine große Nummer. Das sollte auch so sein und auch so bleiben.
Rudi, der Vergleich der Trainings- und Spielbedingungen ist auch ein gutes Stichwort für dich.
Bommer: Das ist nicht mehr vergleichbar mit früher. Wir haben auf gefrorenen Plätzen gespielt. Früher konntest du einem die Knochen brechen, Nasenbein, alles kaputt machen, was du wolltest. Du konntest auch drei Meter reinfliegen, von hinten. Gerade international. Da ging es sehr ruppig zu. Das gibt es heute in dieser Form nicht mehr, es ist alles besser geworden. Was mir nicht gefällt ist, wenn der Rasen manchmal nicht so gut verlegt ist, dir einer mal über den Fuß rutscht und der Spieler sofort theatralisch hinfällt.
Wie siehst du die Eintracht konkret?
Bommer: Die Eintracht hat sich gut entwickelt. Für mich sind solche Klubs heute Wirtschaftsunternehmen. Du musst auch Spieler für viel Geld verkaufen, das machen wir gut. Ich finde, mit Ritsu Doan von Freiburg haben wir wieder einen richtig geilen Fußballer bekommen. Dazu gefallen mir Spieler wie Rasmus Kristensen und Arthur Theate sehr gut. Das sind zwei überragende Fußballer. Ob das vielleicht für ganz vorne reicht, da bin ich gespannt.
Hagner: Ich bin Eintracht-Fan. Wenn ich meine Kinder mit ins Stadion nehme oder meine Freundin, sind alle begeistert. Das Einzige, was ich mir wünschen würde, ist, dass wieder mehr Spieler über die U19 und U21 den Sprung in den Profikader schaffen – wie es damals bei uns der Fall war. Spieler aus der eigenen Jugend, die sich in den vergangenen 20 Jahren dauerhaft durchgesetzt haben, können wir wahrscheinlich an einer Hand abzählen. Das ist nur eine Feststel- lung – natürlich möchte ich darüber nicht urteilen, dafür bin ich nicht nah genug dran. In Hoffenheim dagegen schon, wir haben gerade im 30-Mann-Kader 13 Spieler aus der eigenen Jugend.