„In jedem Spiel am Abgrund“

Dass es überhaupt zu diesem Finale Furioso am 29. Mai 1999 kam, ist noch Mitte April in weiter Ferne. Nach dem 30. Spieltag lag die Eintracht vier Punkte hinter dem rettenden Ufer. Mit dem Dreier in Bremen begann die Aufholjagd der Eintracht. Es folgten die Siege gegen den BVB (2:0) und auf Schalke (3:2 nach 0:2-Rückstand). Wie einige Spieler die Wochen vor dem letzten Spieltag erlebt haben, erzählen sie in der „Eintracht vom Main“ [mit Material aus EvM-Ausgabe #23; Anm. d. Red.].

Rückblende, der 31. Spieltag 1998/99. Andree Wiedener ist Stammspieler bei Werder Bremen, muss aber gegen die Eintracht aufgrund einer Gelbsperre passen. Sieben der vergangenen neun Partien hatte Werder vor dem Heimspiel gegen die Eintracht verloren. „Wir waren vom Kopf und vom Körper her nicht in der Lage, etwas Großes zu reißen. Viele hatten vor dem Spiel mit der Entlassung unseres Trainers Felix Magath gerechnet. Wir wollten die Eintracht unbedingt auf Distanz halten, haben sie aber mit diesem 1:2 aus unserer Sicht aufgebaut“, erzählt Wiedener, der heute in der Traditionsmannschaft der Eintracht gelegentlich Traineraufgaben übernimmt – denn im Januar 2002 war er von Bremen nach Frankfurt gewechselt und lief vier Jahre als Adlerträger auf.

Davor schaffte er 1999 mit Bremen noch den Klassenerhalt, weil nach der Niederlage gegen die Eintracht das 1:0 im Nachholspiel gegen Schalke folgt. „Es war das erste Spiel von Thomas Schaaf. Mit einer unglaublichen Kampfleistung haben wir gewonnen. Ich erinnere mich an eine Szene, als ich einem Ball hinterhergesprintet bin und ihn kurz vor der Linie weggegrätscht habe. Da hat das ganze Stadion gestanden“, beschreibt Wiedener die Stimmung, die Werder letztlich zu drei Siegen in Folge trug und sie damit am letzten Spieltag nicht mehr absteigen konnten. Die Saison endete äußerst versöhnlich, weil die Werderaner später noch „als Fast-Absteiger gegen den großen FC Bayern, die zuvor das Champions-League-Finale erreicht hatten“ (O-Ton Wiedener), den DFB-Pokal gewannen.

Auch für die Eintracht war die Partie in Bremen enorm wichtig, es war der erste von drei Siegen auf dem Weg zum „Finale“ am letzten Spieltag. Ein Adlerträger-Quartett spricht über die Wochen vom Sieg in Bremen bis zur entscheidenden Partie gegen Kaiserslautern.

Alexander Schur - „Initialzündung Schalke“

Nach dem 2:2 gegen den HSV haben wir mit jedem Sieg ein größeres Selbstbewusstsein entwickelt, sind in einen regelrechten Flow geraten und haben uns an den stärker eingeschätzten Gegnern hochgezogen. Dabei kam uns Spielern zugute, dass vom Vereinsumfeld große Ruhe ausging, obwohl wir in jedem Spiel am Abgrund standen. Sowohl das Präsidium als auch Trainer Jörg Berger strahlten in jedem Moment Zuversicht aus. Gerade Bergers Gelassenheit war extrem wichtig, damit wir unser Nervenkostüm im Griff behalten konnten. Ich weiß noch, als ich in der Pause auf Schalke [1:2 aus Eintracht-Sicht; Anm. d. Red.] völlig angespannt die Rolltreppe in der Arena hochgefahren bin. Doch nach Bergers Halbzeitansprache war die Verkrampfung wie verflogen, die Lockerheit war bei allen zurück! Vielleicht war es auch ein Vorteil, dass wir wussten, uns auf niemanden außer uns selbst verlassen zu können. Dieses Spiel noch gedreht zu haben, war die Initialzündung für das folgende Finale.

Olaf Janssen - „…muss dem Fussballgott eingefallen sein“

Der Verlauf der letzten vier Spiele war einzigartig. Auf Schalke, als wir zur Halbzeit 1:2 zurücklagen, haben wir uns gesagt, dass wir das Herz auf dem Platz lassen. Und dann passierte beim Stand von 2:2 etwas Außergewöhnliches. Ich gehörte nicht zu den schnellsten Spielern der Liga. Dass ich auf die Idee gekommen bin, nach vorne zu laufen, muss dem Fußballgott eingefallen sein. Dann bekomme ich auch noch einen Steilpass von Bernd Schneider und laufe gefühlt 200 Meter alleine auf das Tor zu. Ich wusste, dass ich keine 18 mehr war und diese seltene Gelegenheit nutzen musste, gerade in dieser Situation. Ich zog ab, Oli Reck hielt, der Abpraller landete wieder vor meinen Füßen und ich schob ein. 3:2-Sieg. Ein Geschenk, weil wir somit am letzten Spieltag tatsächlich noch eine Chance auf den Klassenerhalt hatten. Der Rest ist Geschichte.

Thomas Zampach - „Fans immer hinter uns“

Nach dem Nackenschlag gegen den HSV, als wir spät das 2:2 kassiert haben, hat uns Schui mit seinem Tor in Bremen zur 1:0-Führung am nächsten Spieltag den Glauben zurückgebracht. Grundsätzlich war die Mannschaft intakt. Wir sind in einen Flow reingekommen, haben auch nach Rückständen immer an uns geglaubt. Ich erinnere mich noch an das Spiel auf Schalke am vorletzten Spieltag, in dem wir zur Pause 1:2 zurücklagen. Niemand hat auch nur ansatzweise infrage gestellt, dass wir dieses Spiel noch gewinnen. Jörg Berger hat es uns auch vorgelebt. Er war enorm wichtig, genauso wie die Fans. Sie haben uns grandios unterstützt. Zwei Jahre vorher waren die Ultras gegründet worden, sie standen immer hinter uns.

Thomas Sobotzik - „Sch…-egal-Mentalität“

Eigentlich hatten wir kein Glaube mehr an den Klassenerhalt nach dem 2:2 gegen Rostock, der ersten Partie nach dem Trainerwechsel [28. Spieltag; Anm. d. Red.]. Aber es ist eine „Sch…-egal-Mentalität“ entstanden, an der Jörg Berger seinen Anteil hatte. Wir hatten eine gute Mannschaft, nur intern hatte es nicht gestimmt. Jörg hat diese Qualität offengelegt, wir hatten wieder Spaß und haben besser Fußball gespielt. Erst der verdiente Sieg in Bremen, dann wie selbstverständlich den hoch dekorierten BVB mit Lehmann, Möller, Kohler und Co. geschlagen und dann die Partie gegen Schalke gedreht. Wir haben schlecht gespielt, machen erst kurz vor der Pause das 1:2. Dann sagt Jörg in der Kabine zu uns: ‚Es läuft alles nach Plan. Die haben sich jetzt ausgetobt, in der zweiten Halbzeit knocken wir sie aus.‘ Hat funktioniert. Die Konkurrenz war angespannt, wir waren locker. So sind wir auch ins letzte Spiel gegangen.