„Hier habe
ich den Übersteiger geübt“
Er hat auch einen Fallrückzieher gegen Oliver Kahn
versenkt, immerhin insgesamt 17 Tore für die Eintracht geschossen und auch
einige Sprüche abgeliefert, die es in die Jahresrückblicke geschafft haben.
Aber es ist diese eine Szene, an die man sofort denkt, wenn es um Jan Aage
Fjörtoft geht. Der Übersteiger. Die „Eintracht vom Main“-Redaktion und
EintrachtTV haben den Norweger in seiner Heimat besucht, um herauszufinden, wo
der heute 57-Jährige seine fußballerischen Wurzeln hat.
Es ist schon ein paar Minuten nach der vereinbarten
Uhrzeit, als das Eintracht-Team an der verabredeten Adresse steht. Die
Hausnummer stimmt, die Straße sollte auch korrekt sein. Kann auch nicht zu
verfehlen sein, denn in Gursken gibt es nur eine Straße, die durch den
langgezogenen Ort führt. Die Häuser liegen zumeist rechterhand ein wenig
erhöht, mit gebührendem Abstand. Die Hofeinfahrten haben die entsprechende
Steigung. Berge und Wasser umgeben das kleine Dorf, etwas unterhalb ist am
Gurskenfjord ein Hafen zu sehen. Nicht zu sehen ist dagegen Jan Aage Fjörtoft.
Es ist still, niemand war in den mehreren Minuten Wartezeit hier unterwegs.
Plötzlich hupt ein Auto, älteres Modell. Jan Aage Fjörtoft
fährt die Einfahrt hinauf und steigt aus. „Herzlich willkommen an meinem
Elternhaus“, sagt der Norweger, der mit dem Fahrzeug seines Vaters gekommen
ist. Fjörtoft trägt Sneakers und eine blaue Jeans, die Hemdärmel sind
hochgekrempelt. „Jetzt zeige ich euch, wo ich erstmals den Übersteiger geübt
habe.“
Nicht mal 1.000 Einwohner leben in Gursken, gelegen im
Westen Norwegens, am Gurskenfjord. Eine Kirche, eine Schule, ein kleiner
Lebensmittelmarkt. Und die Werft, der Hauptarbeitgeber im Ort. Kaare Fjörtoft
war viele Jahre Seemann und hat daher eine enge Verbindung zur Werft. In
Gursken hat er mit seiner Frau eine Familie gegründet, einer der Söhne ist Jan
Aage. Seit fast vier Jahrzehnten wohnt Jan Aage nicht mehr hier, aber es ist
der Ort, wo er seine Kindheit verbracht hat. „Ich mag es hier, weil es hier
schön ruhig ist. Hier tanke ich Kraft“, sagt Fjörtoft, der immer wieder gerne
zurückkommt. Wie an diesem Wochenende, wo er auf dem nach ihm benannten
Sportplatz eine Fußballschule durchführt (siehe Seite 85).
Jan Aage Fjörtoft geht die Einfahrt hinunter auf die
Durchgangsstraße, ein paar Meter Richtung Osten. Dann schaut er nach rechts, wo
es einen kleinen Abhang hinuntergeht. „Hier muss es irgendwo sein“, sagt er.
Bäume und Sträucher lassen keinen Weg erkennen, es gibt nur kleine
Trampelpfade. „Dort unten war er, unser erster Bolzplatz.“
Im Verein gespielt hat Fjörtoft ein paar Meter weiter,
sozusagen im Ortskern. Links eine Schule, rechts der Sportplatz River Plate.
1978 erbaut, im Jahr, als die Weltmeisterschaft Station in Argentinien machte,
und der größte Klub in Buenos Aires heißt River Plate. Fjörtoft wird später an
diesem Platz stehen und erzählen: „Hier habe ich in jungen Jahren die ersten
Ligaspiele gemacht und die ersten Tore geschossen. Ich glaube, ich war sechs
oder sieben Jahre alt. Es war eine tolle Zeit. Mein Vater war als Seemann viel
unterwegs, ich habe oft Zeit bei meinen Großeltern verbracht.“ Im Alter von 15
Jahren wechselte Fjörtoft zum nächstgrößeren Klub.
„Es
ist schwer zu beweisen, dass hier mal ein Spielfeld war“ -- Jan
Aage Fjörtoft –
Zurück im Gebüsch unweit des Elternhauses. „Es ist schwer
zu beweisen, dass hier mal ein Spielfeld war“, sagt Fjörtoft, der versucht zu
zeigen, wo die Begrenzungen einst waren und wo die Tore standen. Mittlerweile
ist vieles zugewachsen, die Fläche sieht eher aus wie eine kleine Lichtung. „Wir
haben hier oft drei gegen drei oder vier gegen vier gespielt.“ Sein kleiner
Bruder sei oft dabei gewesen, ein paar andere Jungs aus dem Ort.
Fjörtoft kommt heute nicht mehr oft zurück nach Gursken.
Vor fast vier Jahrzehnten startete seine Reise als Fußballprofi, im Alter von
22 Jahren verließ er Norwegen. Er spielte in Österreich, dann bei vier Vereinen
in England, ehe er zur Eintracht kam. Seine Karriere, in der er es auch auf 71
Länderspiele und die WM-Teilnahme 1994 in den USA brachte, beendete er dann
wieder in Norwegen. Seine Arbeit heute ist international, unter anderem als
TV-Experte, Berater in Sport und Wirtschaft sowie Moderator arbeitet er in
vielen Ländern, in seiner Funktion als Internationaler Markenbotschafter und
Vorsitzender des Norway Forums bei Eintracht Frankfurt nimmt er Termine in der
Mainmetropole wahr und schafft Verbindungen zwischen der Region
FrankfurtRheinMain und seinem Heimatland. Fast logisch also, dass der
meinungsstarke ExProfi heute relativ flughafennah im Großraum Oslo wohnt.
Alleine in der vor dem Besuch in Gursken abgelaufenen Woche war er in München,
Salzburg und Rom unterwegs, England steht in einer laufenden Saison jede Woche
auf seinem TV-Experten-Plan.
Fjörtoft schaut, dass er auf dem weichen Gras nicht in die
nassesten Stellen tritt. „Es war ein Sandplatz früher. Wir haben hier oft
gekickt.“ Und Dinge ausprobiert. „Ich habe hier alle meine Tricks einstudiert.
Dieser Straßenfußballerhintergrund war wichtig für mich“, erklärt er.
Das
Elternhaus ist heute ein Jan-Aage-Fjörtoft-Museum
Wichtig für seine große Karriere, die das Elternhaus
mittlerweile zu einem Museum haben werden lassen. „Ich habe das Haus von meinen
Eltern übernommen. Sie wohnen mittlerweile auf der anderen Seite des Berges, in
einer altersgerechteren Wohnung“, erzählt Fjörtoft, der einen Einblick in die
verschiedenen Schatzkammern gewährt. Hier ein Schrank, in dem nur alte
Trainingsanzüge hängen. Natürlich auch aus der Eintracht-Zeit. Dort eine Stange
voller Bügel, an denen nur Trikots aufgereiht sind. Matthäus, Bergkamp, vom FC
Barcelona, von der Eintracht. An der Wand hängt eine Urkunde „Fußballer des
Jahres 1989“ in Österreich. Auf dem Weg ins obere Stockwerk stehen auf einer
Kommode Pokale, Bilder, gerahmte Aufstellungen – und ein Teil des Torpfostens
aus Frankfurt vom 29. Mai 1999. In einer Vitrine liegen Fußballschuhe,
Handschuhe und ein Trikot von Erling Haaland, dessen Karriere er schon lange
begleitet – hat er doch schon mit Vater Alf in der Nationalmannschaft
zusammengespielt. Heute ist Haaland junior der wahrscheinlich beste Fußballer
seines Landes – und ist einen ähnlichen Weg gegangen wie Fjörtoft: Beide gingen
von Norwegen nach Österreich, dann folgten – nur in unterschiedlicher
Reihenfolge – die Bundesliga und die Premier League.
In einem kleinen Raum, neben dem Kühlschrank, stapeln sich
in einem Regal die Ordner. „Mein Vater hat hier alle Zeitungsausschnitte
gesammelt“, erzählt Fjörtoft, zieht die Brille auf und blättert durch. Und
blättert. Und erzählt. Und blättert. Norwegische und deutsche Zeitungen. Der
Tanz mit Ex-Oberbürgermeisterin Petra Roth auf der Tribüne nach dem
Klassenerhalt, der legendäre Titanic-Spruch in Großbuchstaben in der
Überschrift („Jörg Berger hätte auch die Titanic gerettet“) und vieles mehr.
Fjörtoft könnte hier stundenlang schmökern.
Auf dem alten Bolzplatz berichtet Fjörtoft, wie er seinen
ersten Übersteiger im Spiel gemacht hat. „Da war ich 18 Jahre alt. Wir haben
5:0 gewonnen und ich habe auf diese Art zwei Tore gemacht. Es war die
Konsequenz aus viel Training.“ Später machte er auch im
Nationalmannschaftsdress ein Übersteigertor, 1993 gegen Polen. In Deutschland
hatte man so etwas aber noch nie gesehen, zumindest nicht in einem Spiel.
Mannschaftskollege Thomas Sobotzik erinnert sich im Gespräch mit der EvM-Redaktion:
„Wir waren nach dem 5:1 nicht überrascht, das hat Jan oft im Training gemacht
und dabei getroffen.“
Der Tag für den Übersteiger im Spiel sollte kommen. Am 29.
Mai 1999. In der 89. Minute, als Eintracht Frankfurt noch ein Tor zum
Klassenerhalt brauchte und Fjörtoft auf Kaiserslauterns Keeper Andreas Reinke
zuläuft. Eine ganze Saison ist plötzlich abhängig von einer Aktion. Der Rest
ist Geschichte, Radio- („Herrje, welche Leistung“, siehe Gespräch mit Dirk
Schmitt auf Seite 91) und Fernsehstimmen („Kalt wie eine Hundeschnauze“)
klingen heute noch in den Ohren der Eintracht-Fans.
Es ist das Tor, das Jan Aage Fjörtoft zum Legendenstatus am
Main verholfen hat. Als einen „kantigen Brecher“, keinen „filigranen Stürmer“,
beschrieb ihn die Frankfurter Rundschau vor fünf Jahren. „Ich bin sehr stolz,
dass sich dieser Treffer in das Unterbewusstsein der Bundesliga eingebrannt
hat.“ Es hätte aber auch anders ausgehen können. „Hätte ich verschossen, hätte
ich nie wieder nach Deutschland einreisen dürfen“, hatte er mal über seine
Gedanken direkt nach dem Spiel mit einem Schmunzeln berichtet.
Fjörtoft hat nun alle Platzverhältnisse rekonstruiert, die Beine sortiert und genug über die späteren Produkte dieser Trainingseinheiten, die Übersteigertore, gesprochen. Nun zeigt er auch, wie er geübt hat. „Du musst auch schauen, dass du dem Ball mit dem letzten Kontakt vor dem Schuss die richtige Richtung mitgibst, damit er nach dem Übersteiger in der perfekten Position für den Abschluss liegt. Du verbesserst den Winkel dadurch, indem du den Ball mit dem einen Fuß führst und mit dem anderen schießt“, erklärt er. Und demonstriert, wie er geht, dieser elegante Übersteiger. Erstmals trainiert auf einem sandigen Bolzplatz im tiefsten Norwegen rund ein Vierteljahrhundert vor dem vielleicht wichtigsten Treffer seiner Karriere. Der auch wiederum ein Vierteljahrhundert später unvergessen ist. Im pulsierenden Frankfurt sowieso, aber sicherlich auch im beschaulichen Gursken.