„Training kann den Wettkampf nicht ersetzen“
Als Spieler hat Andreas Möller alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt. Welt- und Europameister wurde er, zudem Champions-League-Sieger, UEFA-Pokalsieger, zwei Mal Deutscher Meister und drei Mal DFB-Pokalsieger – und zu Beginn seiner Karriere auch Deutscher Meister mit der A-Jugend der Frankfurter Eintracht. Im Oktober 2019 ist er zu seinen Wurzeln zurückgekehrt und leitet seither das Nachwuchsleistungszentrum der Eintracht. Ein in Zeiten der Pandemie kein leichtes Unterfangen.
Corona – verschenkte Monate für das Leistungszentrum?
Es waren herausfordernde Monate – sportlich,
organisatorisch, logistisch. Das Training kann den Wettkampf nicht ersetzen.
Wir vermissen auch die internationalen Turniere, die so wichtig sind, nicht
zuletzt für die soziale Gemeinschaft. Das gemeinsame Durchleben von Siegen,
aber auch Niederlagen, das fehlte den Jungs. So wie ihnen generell ein großes
Stück Fußball fehlt. Das Messen mit anderen, der Wettbewerb – all dies war
nicht möglich. Gerade wenn man jung ist, sind anderthalb Jahre eine lange Zeit,
in der eine Menge passiert.
Fluktuation oder Konstanz?
Zusammenhalten. Wir haben versucht, während der
Coronapandemie die Kader so gut wie möglich zusammenzuhalten. Der Leistungsgedanke
steht jedoch immer im Vordergrund. Wir wollten die Fluktuation in den
Mannschaften trotzdem so niedrig wie möglich halten. Gerade weil die Jungs sich
in dieser schwierigen Phase kaum zeigen konnten. Die Entwicklung bei den
Jugendlichen geht sehr schnell voran, deshalb muss man mit großer Sensibilität
den Leistungsstand beurteilen. Spielpraxis und hohe Einsatzzeiten im Wettkampf
sind im Jugendalter nun Mal das Allerwichtigste. Der beste Weg für jeden
Jungen, das war für uns das Hauptkriterium.
Im Rhythmus bleiben?
Eine starke Leistung. Unser großer Dank gilt dabei den
Trainern und Mitarbeitern für deren Einsatz, Flexibilität und für das komplexe
Arbeiten. Rund 200 Kinder und Jugendliche im Rhythmus zu halten – das war eine
starke Leistung. Wechselnde Vorgaben, Hygienekonzepte, permanente Anpassungen
und Veränderungen – auch den schulischen Bereich betreffend. Die Abläufe im
Internat liefen ebenso wunderbar und reibungslos. Digitale Kommunikation war in
dieser Phase gefragt und wird uns weiterhin begleiten. Hier sind wir Dank
hochmoderner Technologie im Nachwuchsleistungszentrum sehr gut aufgestellt.
Ein Virus als Chance?
Zeit für Selbstreflexion. Für die konzeptionelle
Weiterentwicklung war der Virus auch eine Chance, ja. Für Selbstreflexion und
das Hinterfragen der eigenen Situation, dafür hatten wir ungewöhnlich viel
Zeit. Wir installierten mit Ömer Erbay einen sportlichen Leiter für den
Grundlagenbereich (U9 bis U14) und legten ebenso im Scouting personell nach.
Mit Königstein haben wir nun einen Kooperationspartner im Westen Frankfurts und
auch mit der Fußballschule wurde der Austausch intensiviert. Obgleich Scouting
vor Ort während des Lockdowns nicht möglich war, konnten wir auf unser großes
Netzwerk zurückgreifen.
Auswirkungen durch Wechsel?
Nein, Modifikation. Trotz einiger Abgänge in der sportlichen
Leitung der Profis werden wir jetzt keinen kompletten Strategiewechsel
vornehmen. Aber wir werden unsere Werte- und Spielphilosophie im Hinblick auf
die neue sportliche Ausrichtung modifizieren. Trainer sollen kreativ sein und
zeigen, was in Ihnen steckt. Im engen Austausch mit Markus Krösche, wie er sich
die Talentförderung vorstellt, versuchen wir gemeinsam das umzusetzen. Wir
haben viele Ideen und Gedanken, wie wir unsere Talente an die erste Mannschaft
heranführen wollen, um eine höhere Durchlässigkeit erreichen zu können. Dazu
gehört auch, die Bindung an den Verein weiter zu stärken. Unser Ziel ist es
ebenso, Mitarbeiter des NLZ so zu fördern, dass die Profiabteilung immer die
Option hat, aus den eigenen Reihen qualifizierte Fachkräfte zu bekommen.
Regional oder International?
Beides! Unser Kerngeschäft ist und bleibt vor allem im
Grundlagen- und Aufbaubereich das Scouting im Rhein-Main-Gebiet! Im
Leistungsbereich brauchen wir auch den Weitblick, d.h. wir müssen uns ebenso
mit den Talenten aus allen Ländern der Welt befassen. Die Wunschvorstellung ist
und bleibt, dass ein Junge aus der Nordweststadt bei uns in der U9 anfängt,
alle Teams durchläuft und eines Tages dann bei den Profis vorneweg marschiert.
Das wünsche wir uns natürlich alle.
Spielphilosophie oder Individualität?
Das gewisse Etwas. Wir haben bereits in den letzten Jahren
unsere Spielphilosophie entwickelt und konkretisiert. Der Rahmen und die
offensive Ausrichtung bleiben Bestandteile unserer Spielidee. Doch wir wollen
die Individualität der Top-Talente mehr in den Vordergrund stellen. Ein System
darf nicht die kreative Entwicklung des Einzelnen behindern. Wer es in den
Profibereich packt, hat immer das gewisse Etwas. Ob Schusstechnik,
Kopfballstärke, Mentalität, Spielübersicht, Schnelligkeit – er hat etwas, das
er immer besser kann als andere. Und genau das müssen wir sehen, erkennen,
entwickeln und fördern: Die individuelle Klasse auf der jeweiligen Position ist
der Eintritt in den Profibereich. Mit dieser individuellen Waffe müssen die
Jungs dann durch die Tür gehen.
Herausforderung Integration: Teil der Eintracht Familie.
Bei uns spielt der Sohn eines Arztes zusammen mit einem
Kicker aus finanziell schwächeren Verhältnissen, wir haben Jungs mit und ohne
Migrationshintergrund, das spielt bei uns wie auch bei den Fans der Eintracht
im Miteinander keine Rolle. Das ist genau unsere Stärke, die familiäre
Ausrichtung, der Zusammenhalt. Ein Teil der Eintracht-Familie zu sein, das hat
eine große Strahlkraft – auch für die Eltern.
Der Dunst der Großstadt. Hier sind alle Eintracht.
Das gemeinsame Leben und Erleben der Eintracht-Werte, das
Miteinander, das ist unser Faustpfand. Wir konkurrieren mit anderen Leistungszentren,
die vielleicht weitaus größer sind. Aber in Frankfurt ist die Regionalität
international, über allem liegt der Dunst der Großstadt. Man braucht mit der
U-Bahn vom Riederwald in die Innenstadt keine Viertelstunde. Hier leben
Menschen unterschiedlichster Nationalitäten und aus allen sozialen Schichten,
die die Eintracht lieben und deren Jungs bei uns kicken – dies wollen wir im
NLZ vereinen. Und das geht nur über den Teamgedanken. Hier sind alle Eintracht!
Identifikation. Leidenschaft. Mentalität.
Die Nachwuchsarbeit wird in Zukunft verstärkt im Fokus
stehen und weiter in die Vereinsstrategie mit einbezogen werden. Wir haben eine
gute Mischung in den Trainerteams. Junge Trainer arbeiten mit Erfahrenen Hand
in Hand. Für Trainer und Spieler ist eine enge Bindung unglaublich wichtig.
Natürlich gehören Fleiß, Wille und die Bereitschaft, gegen Widerstände zu
kämpfen dazu. Aber die Kinder und Jugendlichen sollen sich hier wohl fühlen,
Spaß haben und wir müssen zudem ihre individuellen Lebenswege berücksichtigen.
Die Jungs sollen mit einem Lächeln zum Training kommen – und mit einem Lächeln
nach Hause gehen.
Interview: Axel Hoffmann
Foto: Alessandro Crisafulli