Physiotherapie: Zwischen Physio und Hygienebeauftragtem
Es ist ein sonniger Spätsommertag und über dem Riederwald liegt eine ungewöhnliche Stille. Mittagspause, der Ball ruht für eine Weile und wir nutzen die Gelegenheit, um uns mit Sven Bockermann zu unterhalten. Mit dem Mann, der nicht nur Leiter der physiotherapeutischen Abteilung ist, sondern auch als Hygienebeauftragter derzeit kaum zur Ruhe kommt. Doch was heißt derzeit?! Seit anderthalb Jahren beschäftigt er sich nun schon mit den Auswirkungen der Pandemie auf das NLZ und ein Ende ist noch nicht abzusehen.
Der gebürtige Bielefelder – verheiratet, ein Kind – kam 2019 zur Eintracht. Zuvor arbeitete er als Physiotherapeut bei Arminia Bielefeld, dem MSV Duisburg und in Polen bei Korona Kielce. Dort gelang es ihm, in anderthalb Jahren die physiotherapeutische Abteilung auf eine ganz neue Ebene zu heben, die sogar größere Vereine in Polen nachhaltig beeindruckte. Seine eigene fußballerische Entwicklung legte noch in der A-Jugend eine schwerwiegende Knieverletzung auf Eis. Dass er jedoch einmal einen Großteil seiner Zeit mit dem Studium und der Umsetzung von Coronaverordnungen verbringen würde, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. „Ich kam zu dem Job als Hygienebeauftragter wie die Jungfrau zum Kinde. Eine der Vorgaben des DFB ist, dass der Hygienebeauftragte medizinische Vorbildung haben sollte – und so fiel die Wahl auf mich“, schildert er die Entwicklung im vergangenen Jahr.
Der Mehraufwand hatte zur Folge, dass Sven die individuelle physiotherapeutische Betreuung der U19, die er in der vergangenen Saison noch unter seinen Fittichen hatte, nun seinem Stellvertreter Carlos Navarro Krauß überlassen hat. Doch generell versteht sich auch die medizinische Abteilung als Team. Dazu gehören nicht nur die Physiotherapeuten der Nachwuchsteams, sondern auch Dr. Sebastian Schneider, der zuständige Arzt am Riederwald, sowie Mark Brinkbäumer als neuer Leiter Athletik- und Reha im NLZ. Dessen Vorgänger, Thomas Pitzke, ist im Sommer zu den Profis gewechselt. „Wir sind eine Einheit und versuchen die angeschlagenen Spieler möglichst schnell wieder in den Trainingsbetrieb zurückzugeben. Das geht nur über ständigem Austausch und mit gegenseitiger Hilfe – auch mit den Kollegen der Profis, dem leitenden Arzt, Prof. Dr. Florian Pfab, und dem Leiter Physiotherapie und Medizin, Christian Haser.
Das Zusammenspiel klappt tadellos. Dazu trägt auch die familiäre Atmosphäre bei, unter der wir hier arbeiten können“, zeigt sich Sven Bockermann höchst angetan vom Arbeitsklima sowohl am Riederwald als auch am Stadion. Obgleich die Wege vom Leistungszentrum in den Stadtwald nicht gerade kurz sind, nimmt Sven dort regelmäßig an Sitzungen teil und steht mit den Kollegen in ständigem telefonischem Kontakt. „Wir besprechen alles gemeinsam – auch aus dem Grunde, dass die Vorgehensweise von den Profis bis hin zur U9 mehr oder minder gleich ist. Und wir stellen uns viele Fragen: Was können wir verbessern, an welchen Stellschrauben können wir drehen, um uns zu optimieren? Ob Profis oder Verein, letztlich sind wir alle Eintracht Frankfurt und wollen gemeinsam erfolgreich arbeiten.“ Zur Eintracht kam er übrigens über Prof. Dr. Florian Pfab und Christian Haser, die er beide schon lange kennt: „Wir liegen medizinisch und therapeutisch auf einer Wellenlänge und denken gleich, das ist natürlich ein großer Vorteil.“
Die Übergänge zwischen Diagnose, medizinischer Behandlung, Physiotherapie und Reha sind fließend. So nimmt Sven Bockermann regelmäßig an den ärztlichen Sprechstunden teil, schaut sich die Spieler an und erarbeitet die Behandlungspläne mit aus, die in der wöchentlichen Spielerbesprechung mit den Kollegen von der U9 bis zur U19 vermittelt und umgesetzt werden. Und wenn Not am Mann ist, hilft er selbst vor Ort – auch wenn sich ein Großteil seiner Arbeit in den Hygienebereich verlagert hat. Und diese Tätigkeit ist vertrackter als man glauben mag, zumal der Nachwuchs eines Profiteams wie Eintracht Frankfurt verstärkt in der Öffentlichkeit steht und Nachlässigkeiten immense Folgen haben können. Exakte Kenntnisse der Corona-Schutzverordnungen – ob von der Stadt Frankfurt, dem Land Hessen oder dem DFB – die Beschäftigung mit dem Virus, aber auch die Umsetzung vor Ort verlangen ein enormes Verantwortungsbewusstsein. Nicht zuletzt von Trainern oder Spielern, in deren Verantwortlichkeit final die Umsetzung der Regeln liegt.
„Ich kam zu dem Job als Hygienebeauftragter wie die
Jungfrau zum Kinde.“ -Sven-
Fahrlässigkeiten dürfen sich nicht einschleichen – auch da achtet Sven genau drauf. Gerade bei Jugendlichen und Kindern sind Regeln nachvollziehbarerweise nicht das allerhöchste Gut. Wer hat nicht in seiner Kindheit den Satz „Es ist nur zu deinem Besten“ gehört, bis dieser einem zu den Ohren herauskam. Doch damals gab es keine Pandemie, keine Quarantäne und keinen damit verbunden Spielstopp. Sowohl individuell als auch für ganze Teams wirken Zwangspausen bis hin zum Saisonabbruch im vergangenen Herbst noch lange nach. Für alle sind die Belastungen, die regelmäßigen Tests, die Maskenpflicht oder die Einhaltung der gekennzeichneten Wege hoch – auch für die Eltern, die lange Anfahrtswege in Kauf nehmen und zur eigenen Sicherheit je nach Inzidenzwert den Trainingseinheiten oder den Spielen nicht beiwohnen können. Unterstützung erhält Sven seit der Coronapandemie ebenso durch Dr Bo Bülow-Johansen der IKF Pneumologie – sei es durch die Durchführung von PCR-Tests und Impfungen für die Nachwuchsspieler oder weil er jederzeit ein offenes Ohr für ihn habe. Sven lässt sich die Freude an seiner Arbeit nicht nehmen, auch wenn er zuweilen streng eine Augenbraue nach oben zieht. „Dem Ostwestfalen wird gemeinhin eine gewisse Hartnäckigkeit nachgesagt, so lautet das Motto von Arminia Bielefeld ‚Stur, hartnäckig, kämpferisch‘. Und so ganz kann ich mich dem nicht entziehen“, lacht er. „Aber die Jungs haben langsam verstanden, dass es in ihrem Sinne ist, sich an die Regeln zu halten und sie ziehen toll mit. Wenn nicht alle mithelfen würden, wäre der Betrieb auch gar nicht aufrecht zu halten“, zieht er ein positives Resümee der vergangenen Monate.
Weder Sportverletzungen noch das Virus kennen eine Fünf-Tage-Woche, so ist auch Sven permanent mit Gedanken bei seinen Jungs. Die seltenen freien Tage nutzt er, um in seine Heimat zu seiner Familie zu fahren, ein wenig abzuschalten, vielleicht den ein oder anderen Tag an der Ostsee zu verbringen und Ruhe und Kraft für die Arbeit am Riederwald zu tanken. Unter der Woche hat er eine Wohnung im Frankfurter Stadtteil Bergen-Enkheim gefunden. Von dort ist es nicht weit bis zum Leistungszentrum. Das Handy ist sein ständiger Begleiter. Ob es der Austausch mit Kollegen, Spielern, Eltern, Trainern oder dem Gesundheitsamt ist – Sven ist nahezu rund um die Uhr für alle erreichbar, gibt Antworten, nimmt Sorgen und klärt auf. „Die Arbeit macht Spaß, aber sie ist natürlich auch anstrengend. Sich durch Paragraphen und Verordnungen zu wühlen, ist ja nicht jedermanns Hobby. Aber es würde dennoch nicht funktionieren, wenn nicht alle am Riederwald bemüht wären, den Sport mit aller Kraft am Laufen zu halten – von der sportlichen Leitung über die Trainer und Spieler bis hin zum Internat und der administrativen Verwaltung. Aber auch mit Justiziar Philipp Reschke von der Fußball AG beraten wir uns regelmäßig. Jeder hilft dem anderen“, weiß Sven um die Bedeutung und Notwendigkeit der vertrauensvollen Zusammenarbeit. „Und es gibt viele Fallstricke. Hessen hat beispielsweise eine andere Verordnung als Rheinland-Pfalz. Frankfurt andere schulische Bestimmungen als Groß-Gerau. Wir müssen uns das alles ganz genau anschauen und stets sorgfältig entscheiden.“
Wenn Sven nicht gerade telefoniert, sitzt er in seinem Büro, arbeitet Trainingspläne aus, denn auch die Belegung der Kabinen und Plätze erfolgt nach den strengen Hygienebedingungen. Wenn eine Kabine belegt ist, darf keine andere Mannschaft hinein. Dazu kommt die Organisation der regelmäßigen Testungen: 24 Stunden vor dem Spiel wird von der U15 bis zur U19 jeder Akteur durchgetestet – sodass auch hier die maximal machbare Kontrolle gewährleistet ist.
„Jeder ist bemüht, den Sport mit aller Kraft am Laufen zu halten.“ -Sven-
Dazu kommen regelmäßige Tests in den Schulen. Die Physiotherapeuten selbst müssen so ganz nebenbei auch während ihrer Arbeit Masken sowie Handschuhe tragen, Handtücher nach Benutzung sofort wechseln und die Geräte desinfizieren. Dies alles bedarf zusätzlicher Zeit, sodass sogenannte Wohlfühlmassagen, die nicht der unmittelbaren Behandlung dienen, derzeit kaum machbar sind. Immerhin ist die Ausstattung der Abteilung in den vergangenen Monaten gewachsen. Neue Geräte erleichtern die Arbeit, verbessern Diagnose und Therapie. Denn auch wenn der Umgang mit dem Virus oftmals im Vordergrund steht, so ist der Kern der Arbeit weiterhin: Diagnose, Therapie und Heilung unserer angeschlagenen Spieler, die so schnell wie möglich wieder auf dem Platz stehen sollen – ohne die Jungs jedoch zu verheizen.
Abwechslung in den Alltag brachte dabei für Sven das Trainingslager der U19 in Oberstaufen, an dem er teilnahm. „Das war bombastisch. Alle haben sich an die Regeln gehalten, wir hatten super Bedingungen und ich bin wirklich dankbar, dass die NLZ-Verantwortlichen Andreas Möller und Holger Müller auch unter diesen Voraussetzungen so ein Trainingslager ermöglichen“, sagt Sven zum Abschluss unseres Gespräches. Und macht sich schon wieder auf den Weg: „Jetzt stehen noch Trainings- und Testpläne an und später noch die ärztliche Sprechstunde“, erklärt er. „Und dazu kommen noch zwei, drei Elterntelefonate.“
Langweilig wird ihm nicht. Wir hoffen aber natürlich alle, dass es in naher Zukunft einen entspannteren Umgang mit Corona geben kann und das Thema womöglich doch eines Tages Geschichte sein wird. Es liegt an uns und unserem Verhalten, genau dafür zu sorgen. Im Zweifel fragt ihr Sven Bockermann. Er kennt die aktuelle Sachlage ganz genau.
Text: Axel Hoffmann
Fotos: Nina Bickel, Alessandro Crisafulli