Geistiger
Wiederaufbau
„!Nie
wieder“! Diese Botschaft der Überlebenden des ehemaligen Konzentrationslagers
Dachau haben Fußballfreunde 2004 aufgegriffen und den „Erinnerungstag im
deutschen Fußball“ ins Leben gerufen. Ein Bündnis aus Fangruppen und
Fanprojekten, Vereinen, Verbänden und Institutionen aus dem Fußball gedenkt
seitdem rund um den Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz der im
Nationalsozialismus ausgegrenzten und oftmals ermordeten Vereinsmitglieder. Die
Eintracht erinnert in diesem Jahr an Martha Wertheimer.
Die Pädagogin,
Journalistin und Schriftstellerin Martha Wertheimer wird am 22. Oktober 1890 in
Frankfurt geboren. Ihr Vater Julius ist Kultusbeamter für das Bestattungswesen
in der orthodoxen Israelischen Religionsgesellschaft, Mutter Johanna betreibt
ein Schneideratelier auf der Zeil. Marthas Bruder Emil fällt als junger Soldat
im Ersten Weltkrieg in der Champagne, die ältere Schwester Lydia arbeitet als
Sekretärin des Politikers und Industriellen Richard Merton. Martha Wertheimer
wird 1911 an der Akademie für Sozial- und Handelswissenschaften immatrikuliert,
die drei Jahre später zur Frankfurter Universität wird. 1917 gehört sie zu den
Ersten, die an der neuen Universität promoviert werden.
Wertheimer
arbeitet in den 1920er Jahren als Journalistin für die „Offenbacher Zeitung“.
Sie engagiert sich politisch, vor allem für das Frauenwahlrecht. Sie ist auch
sportlich, ist Mitglied bei der Eintracht und eine begeisterte Fechterin.
Bereits 1921 veröffentlicht sie unter dem Pseudonym „Martha Werth“ das Buch
„Frauenart und Leibesübung“, 1923 dann unter ihrem richtigen Namen das Buch
„Erziehung zum Fechter“. Ihr Talent zum
Schreiben kommt auch der Eintracht zugute. Jahrelang ist Wertheimer
Schriftleiterin der Vereinsnachrichten der Eintracht. Sie berichtet schon 1922
vom ersten Länderspiel am Riederwald, 1932 begleitet sie das Endspiel um die
Deutsche Meisterschaft gegen den FC Bayern München.
Im Verein
versucht die Visionärin ein sogenanntes „Geistesturnen“ zu etablieren, bei dem
sich die Turner und Sportler nicht nur um den Körper kümmern sollen, sondern
auch um einen „sportlichen“ Geist. Über den Sinn des Geistesturnens berichtet
Martha Wertheimer in den Vereinsnachrichten vom Juni 1921: „Geistesturnen kann
und darf sich also nicht darauf beschränken, dass den Vereinsmitgliedern das
Wesen der Leibesübungen oder besonderer ihrer Zweige erklärt, nahegebracht und
vertieft wird. Es muss auf alle Gebiete übergreifen, wo ein erzieherischer Wert
geborgen liegt. Vorträge über künstlerische, ethische, geschichtliche,
naturwissenschaftliche Fragen müssen einbezogen werden. Ja, der Gedanke
kleinerer Arbeitsgemeinschaften ließe sich erwägen, in denen sich Menschen, die
für ein bestimmtes Gebiet Neigung haben, sich zu gemeinsamer Arbeit vereinigen.
Das Vereinsleben wird auf diese Weise auf eine höhere Stufe gehoben, als
Tanzvergnügen oder Kneipen es vermögen. Es wird in Deutschland wohl genug
getanzt und sich vergnügt, aber es wird nicht genug gedacht und Gutes gewollt.“
Am 4. November
1920 referiert Martha Wertheimer in der Turnhalle vor großem Publikum über das
„Wesen des Volkslieds“, am 28. April 1922 vor weitaus weniger Zuhörern über
„Das körperliche und geistige Mannesideal bei den Babyloniern“. Für solch
schwierige Themen sind Vereinsmitglieder schwer zu begeistern, aber schlecht besuchte
Veranstaltungen entmutigen Wertheimer nicht. Im Juni 1921 schreibt sie:
„Schlecht besuchte Vorträge dürfen nicht abschrecken. Wer eine Aufgabe erkannt
hat, muss wissen, dass Erfolge immer nur spät kommen. Wer für das Geistesturnen
arbeiten will, muss selbstlos sein; persönliche Erfolge sind keine zu holen.
Aber wenn unter den Menschen, die kommen, auch nur einige heimkehren mit dem
Gefühl, belehrt oder erhoben worden zu sein, dann ist viel gewirkt.“
Martha
Wertheimer organisiert auch die Weihnachtsfeiern des Vereins. Als Resümee des
Fests 1922 berichtet sie: „Als gegen 11 Uhr sich der Saal leerte, war ein Fest
vorüber, das in lauter Fröhlichkeit bewiesen hatte, wie weit das
Zusammengehörigkeitsgefühl unter unseren Mitgliedern geht. Es waren fröhliche
Weihnachten. Und wir, denen der geistige Wiederaufbau unserer deutschen
Menschen am Herzen liegt, wollen uns als letzten Ausklang der Weihnachtszeit
wünschen: ‚Eintracht, trag Weihnachtsgeist ins ganze Jahr, sei unserer
Neugeburt Verkündigung‘ “.
Nach der
Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wird Martha Wertheimer bei der
Offenbacher Zeitung entlassen. 1936 muss sie mit ihrer Schwester Lydia die
liebgewonnene gemeinsame Wohnung in der Heimatsiedlung verlassen. Martha geht
nach Berlin, wo sie für eine Zeitung die Chefredaktion leitet. Sie engagiert
sich im Jüdischen Kulturbund und übernimmt Funktionen im Makkabi, der jüdischen
Sport- und Jugendorganisation. Sie wirkt mit am Buch: „Das jüdische Sportbuch.
Weg, Kampf und Sieg“, das noch 1937 erscheint. 1938 kehrt sie zurück nach
Frankfurt, fortan wohnt sie gemeinsam mit ihrer Schwester in der
Beethovenstraße. Auch in Frankfurt engagiert sie sich in der Jüdischen
Wohlfahrtspflege, sie organisiert und begleitet Kindertransporte ins rettende
Ausland. Doch Martha Wertheimer kehrt immer wieder zurück nach Deutschland.
Nachdem Lydia
1940 vorübergehend verhaftet und Martha von der Gestapo verhört wurde, planen
die Schwestern dann doch die Flucht. Die Flucht gelingt nicht mehr. Im Mai 1941
wird Martha bei einem Bombenangriff durch eine Splitterbombe verletzt, ihre
Wohnung zerstört. Ende 1941 müssen Martha und Lydia in ein „Ghettohaus“ in der
Fürstenbergerstraße 167 umziehen. Die Gestapo zwingt sie, bei der Organisation
der Judendeportationen mitzuarbeiten. Sie selbst wird gemeinsam mit ihrer
Schwester für den dritten Transport aus Frankfurt eingeteilt, der am 11. Juni
1942 startet. Als der vorgesehene Transportleiter ausfällt, erhält Martha diese
Aufgabe. Von den etwa 1.000 über Lublin nach Majdanek und Sobibor Deportierten
überlebt keiner. Möglicherweise kommt Martha Wertheimer dem Tod in der
Gaskammer durch Selbstmord zuvor.
Text:
Matthias Thoma
Literaturtipps
„Das jüdische
Sportbuch“ (Martha Wertheimer, Siddy Goldschmidt und Paul Yogi Meyer) (Berlin
1937) / „In mich ist die große dunkle Ruhe gekommen. Briefe an Siegfried
Guggenheim in New York 1939-1941“ (Herausgeber: Fritz Bauer Institut; Frankfurt
am Main, 2. erweiterte Ausgabe 1996)