Fanabteilung
trifft … Vatmier Tischendorf
Bunt ist
sie, die Eintracht-Welt, voller Geschichten und Erlebnisse – nicht nur auf dem
Platz, sondern vor allem auch abseits des Spielfelds. Getragen werden diese
Ge-schichten durch die Fans und Mitglieder der Eintracht. Eines davon ist
Vatmier Tischendorf.
London
„Im strömenden Regen um
1.30 Uhr in der Nacht stehe ich mit drei Dänen unter dem winzigen Vordach des
Kings Cross Hotels in London. Wir rauchen und trinken Dosenbier. Dies also ist
das Ende einer Europareise mit Eintracht Frankfurt? Der Plan war doch, mit den
Freunden gemeinsam in Baku den Gewinn der Europa League zu feiern. Aber doch
nicht, mich einsam und frierend von Wildfremden trösten zu lassen.“
Frankfurt
Mit diesen Worten endete eine lange Reise von Vatmier Tischendorf. Eine Reise,
die vor Jahrzehnten begonnen hat – damals, als die vierjährige Vatmier
gemeinsam mit ihrem 18 Jahre älteren Bruder Reinhold, genannt Rainer, erstmals
das Frankfurter Waldstadion betrat. Er hatte damals eine Dauerkarte im G-Block
– und für Vatmier gab es fortan nur die Ein-tracht. Und diese Eintracht war eng
verwoben mit ihrem Bruder. Auch als die SGE gegen die Kickers spielte, waren
sie zugegen. Die Eintracht gewann, doch hinter den Stufen zum Block warteten
schon einige Kickers-Fans. Es gab kleine Tumulte. Rainer packte Klein-Vatmier
auf seine Schultern und spazierte stoisch durch die Schlacht. Ein anwesendes
Fernsehteam filmte die Szenerie und so landeten sie im HR-Fernsehen. So
entdeckte auch Vatmiers Mutter, wie es zuweilen im Stadion zugeht. Die
Konsequenzen waren zunächst bitter: „Ich bekam Stadionverbot. Nicht von der
Polizei, nicht vom Verein, sondern von meiner Mutter.“ Doch auch in solch
prekärer Situation konnte Rainer Abhilfe schaffen. Statt einer Dauerkarte im
G-Block organisierte er sich eine auf der seriöseren Gegentribüne – und nahm
Vatmier weiterhin mit zur geliebten SGE, auch wenn die Eintracht auf dem grünen
Rasen zeitweise die Fans verzweifeln ließ. „Och Mädchen, sagte Rainer oft, das
ist ein Gekicke. Aber irgendwann spielen wir in Madrid oder in London. Und dann
sind wir zwei da.“
London
Der fünfte Pokalsieg
der Eintracht 2018 war der Startschuss zu einer grandiosen Europareise – und
natürlich war Vatmier dabei. Stapfte durch den Winterschnee in Charkiv und
trieb gemeinsam mit ihrem Mann Steffen durch die milde Sonne von Lissabon.
Reinhold schaffte es zu diesem Zeitpunkt kaum noch ins Stadion, der Krebs
setzte ihm zu, die Kräfte schwanden. Die Zeit nimmt keine Rücksicht auf Träume,
auch wenn der nächste Gegner der Eintracht tatsächlich Chelsea London werden
sollte. „Aber irgendwann spielen wir in Madrid oder in London. Und dann sind
wir zwei da“, dieser Satz hatte Vatmier ihr ganzes Leben begleitet. Und jetzt,
im Mai 2019, sollte es so weit sein. Die Eintracht würde in einem Pflichtspiel
in London spielen. Doch für Rainer kommt dieses Spiel zu spät. In der Nacht vor
dem Hinspiel in Frankfurt verstirbt er an seiner Krankheit. „Genau deswegen stand ich mit meinem Mann am
Abend in der Nordwestkurve und war ein kleiner Teil der geilsten Choreo ever.
Heimspiel, Eintracht Frankfurt gegen Chelsea London, Halbfinale, so was kannst
du dir nicht ausdenken!“
Genau eine
Woche später, morgens um 8 Uhr, fährt ein ICE nach Brüssel, mit an Bord
Vatmier, die von dort aus mit dem Eurostar unter dem Ärmelkanal mit 350 km/h
nach London saust. Und die Gedanken wandern zurück an die Zeit, in der sie als
kleines, dünnes Mädchen mit langen Zöpfen an der Hand ihres Bruders ins
Frankfurter Waldstadion marschierte. Und natürlich klingt dessen Stimme in
ihrem Kopf: „Irgendwann spielen wir in Madrid oder in London. Und dann sind wir
zwei da.“ Dieser Traum sollte letztlich nicht in Erfüllung gehen, obgleich
Rainer in Vatmiers Gedanken das unglückliche Ausscheiden im Elfmeterschießen
miterlebte. „Mein Bruder war immer mein Held, er war ja der eigentliche
Eintracht-Fan und er gehört zu mir und zu meiner Eintracht.“ Nach Spielende
will ein pakistanischer Händler am Bahnhof Kings Cross gerade seinen Laden
abschließen, als eine traurige nasse Gestalt ihn um etwas zu trinken bittet. Er
verkauft Vatmier drei San Miguel und bedauert sehr, dass Chelsea gegen
Frankfurt gewonnen hat. „Ich laufe die drei Straßenecken durch den strömenden
Regen zum Hotel. Dort stehen die drei jungen Dänen mit Zigaretten und Dosenbier
unter dem winzigen Vordach. Wir trinken und rauchen, die Reise neigt sich dem
Ende entgegen. Eintracht Frankfurt war in Rom, Mailand und in London. Sie hat
ein Halbfinale verloren und ich meinen Bruder. Aber niemand kann uns ein Jahr
voller Begegnungen und persönlicher Erlebnisse in Europa nehmen.“ Und die
Erinnerungen bleiben bestehen. An London. An Reinhold. Und an Vatmiers
Geschichte.
Text: Axel Hoffmann