„Was machst du diesen Sommer?“

Jan, lass uns nach dem Ausflug in den norwegischen Vereinsfußball im Dezember heute über die Nationalmannschaft sprechen. Genauer gesagt über deine Karriere in dieser. Du warst Anfang der 1990er Jahre Teil der erst zweiten norwegischen Mannschaft überhaupt, die sich für ein großes Turnier qualifizieren konnte. Welche Erinnerungen hast du an dieses Fußballmärchen?
Vor der Weltmeisterschaft 1994 war es Norwegen nur 1938 gelungen, sich zu qualifizieren. Jahrzehntelang waren wir immer Letzter in unseren Qualifikationsgruppen und nicht mal nah dran, es zu schaffen. Als wir dann unsere Gruppe in der Qualifikation sahen, haben wir uns ebenfalls erstmal nicht viel ausgerechnet. Mit England und den Niederlanden gab es zwei absolute Topfavoriten. Dazu kamen Polen, die Türkei, San Marino und wir. Letztere schlugen wir zum Auftakt mit 10:0, unser erstes Ausrufezeichen war aber ein 2:1-Heimsieg gegen die Elftal. Ein Team mit Superstars wie Frank Rijkaard, Marco van Basten und Dennis Bergkamp. Das gab uns viel Selbstvertrauen, sodass wir im Herbst 1992 richtig viele Punkte einfahren konnten. Damit hatten wir eine super Ausgangssituation, um 1993, als es in die heiße Phase ging, richtig anzugreifen.

Zu Hause wart ihr eine absolute Macht und gabt nicht einen einzigen Punkt ab. Was machte das Team damals darüber hinaus so stark, dass man auch auswärts in den Niederlanden und England punkten konnte?
Nachdem wir jahrelang unter verschiedenen Coaches nur Achtungserfolge verbuchen konnten, übernahm 1990 Egil Olsen als Nationaltrainer. Unser erstes Spiel unter ihm war gleichzeitig meine 25. Partie für Norwegen. Wir spielten gegen Kamerun, das gerade bei der WM in Italien für Furore gesorgt hatte, und gewannen mit 6:1. Ich erzielte zwei Jokertore und wir hatten direkt das gute Gefühl, dass mit dem neuen Trainer etwas gehen könnte. Von der WM haben wir aber noch lange nicht geträumt, was vielleicht auch unser Vorteil war, denn wir verspürten keinerlei Druck. Olsen verpasste uns schnell ein hervorragendes System, bei dem wir defensiv gut standen und unsere Stärken bei Kontern und Standardsituationen ausspielen konnten. Wir hatten eine gute, talentierte Generation. Die Spieler waren alle um das Jahr 1969 geboren, nur unser Kapitän Rune Bratseth, der lange bei Werder Bremen spielte, und Torhüter Erik Thorstvedt waren etwas älter als die meisten. Es war einfach eine gute Mischung. Da wir mit nur einer Spitze spielten, musste ich mir meinen Platz als Nummer neun hart erarbeiten. Platzhirsch war erst einmal Routinier Göran Sörloth, dessen Sohn Alexander heute in Leipzig spielt. Übrigens war auch Erling Haalands Vater Alfie damals als einer der Jüngsten im Kader mit dabei.

Englischer Fußball ist seit jeher extrem populär in Norwegen, die meisten von euch spielten im Laufe ihrer Karriere irgendwann dort. Wie besonders waren die Duelle mit den Three Lions?
Sehr! Nicht nur haben wir die Qualifikationsgruppe gewonnen und flogen damit zur WM in die USA, sondern das große England schied auch völlig überraschend aus. Für die Fußballfans in Norwegen war beides unvorstellbar, gegen jede Weltordnung. Im ersten Duell holten wir in London ein respektables 1:1, zu Hause gewannen wir später sogar. Wie alle Spiele war auch das Spiel gegen Weltstars wie Paul Gascoigne und Alan Shearer im Ullevål Stadion von Oslo mit 25.000 Fans ausverkauft. Die Stimmung war unglaublich. Norwegen war es ja nicht gewohnt, eine erfolgreiche Mannschaft zu haben, und die Leute waren entsprechend aus dem Häuschen. Irgendwann im Laufe der ersten Halbzeit gab es dann beim Stand von 0:0 einen Eckball und ich höre Kapitän David Platt – damals immerhin der teuerste Fußballer der Welt - zu einem seiner Mitspieler sagen: „Deren einzige Waffe sind lange Bälle, sonst haben die nichts drauf.“ Kurz vor und nach der Halbzeitpause erzielten wir dann jeweils ein Tor und nach dem 2:0 ging ich zu ihm rüber und sagte: „Sieh an, scheinbar haben wir doch mehr als nur eine Waffe“ (lacht).

Ganz schön vorlaut.
Es wird noch besser: Rund einen Monat vor dem Turnier in den USA kam es dann zu einem Freundschaftsspiel in Wembley, England wollte unbedingt Revanche nehmen. Schließlich fuhren wir als Gruppensieger zur WM, während die Engländer als Dritte hinter den Niederlanden ausschieden. Vor der Partie legte unser Trainer fest, dass mein Konkurrent und ich jeweils eine Halbzeit spielen würden. Ich war da bereits Stürmer Nummer eins und begann. In der 43. Minute steht auf einmal wieder David Platt neben mir, während der Ball gerade am anderen Ende des Spielfelds ist. Also drehe ich mich zu ihm und frage: „Und, welche Pläne hast du diesen Sommer?“ Er war stinksauer auf mich, zum Glück wurde ich wie abgemacht zur Halbzeit ausgewechselt. Diese Geschichte sagt viel über unser Selbstvertrauen damals aus. Das Trikot habe ich dann sicherheitshalber lieber mit Tony Adams getauscht.

Stimmt es eigentlich, dass ihr die Qualifikation versehentlich zu früh gefeiert habt?
Das war tatsächlich so. In den Niederlanden haben wir ein 0:0 geholt, aber schon in der ersten Hälfte hatte der Gegner bestimmt sieben Großchancen. Allein der ehemalige Bayernspieler Jan Wouters hat in einer Szene direkt hintereinander beide Pfosten getroffen. „Gott ist ein Norweger“ titelte unsere größte Tageszeitung am nächsten Tag. Im darauffolgenden Spiel schlugen wir Polen zu Hause mit 1:0 und irgendwie dachte man beim Verband, dass wir damit fix qualifiziert wären. Also organisierte man eine große Parade, bei der wir in Pferdekutschen mitten durch Oslo fuhren und uns 50.000 Menschen zujubelten. Das Problem: Wir hatten noch Auswärtsspiele in Polen und der Türkei, und um sicher bei der WM zu sein, mussten wir definitiv noch eines der Spiele gewinnen (lacht). Der richtige Feiertag des norwegischen Fußballs war direkt das nächste Spiel in Poznan, das wir mit 3:0 gewannen. Ich erzielte das zwischenzeitliche 2:0 standesgemäß per Übersteiger, damit waren wir endgültig in den USA dabei. Wir hatten Geschichte geschrieben.

Interview: Markus Rutten

Jan Aage Fjörtoft, 53, hat die Eintracht 1999 zum Klassenerhalt geschossen und genießt bei den Fans nicht nur daher Kultstatus. Er ist ein fußballerischer Weltenbummler, meinungsstark, immer auf dem Laufenden, ein gefragter Experte und nicht zuletzt unserer Eintracht nach wie vor tief verbunden. Das sind Gründe genug für eine regelmäßige Interview-Kolumne mit dem Norweger.