Ein Dutzend Torschützen des Monats

Am 29. Mai 1971 erzielt Bernd Nickel ein wunderschönes Tor gegen Kickers Offenbach. Es wird wenig später zum Tor des Monats gekürt. Erstmals erhält ein Adlerträger die Auszeichnung, die im März desselben Jahres vom deutschen Fernsehsender Das Erste ins Leben gerufen wird. 13 Tore von Adlerträgern sollten bis zum heutigen Tag folgen, beteiligt daran waren insgesamt zwölf Akteure. Die „Eintracht vom Main“ hat ein Tor aus jedem Jahrzehnt ausgewählt und erzählt mit den Protagonisten die Geschichte dazu.

Texte: Michael Wiener
Fotos: Eintracht-Archiv, imago images

Bernd Nickel, 29. Mai 1971
„Ich wäre zu den Bayern gewechselt“ 

Die Eintracht abgestiegen, die Kickers dringeblieben und Bernd Nickel auf dem Weg nach München. Man mag sich nicht vorstellen, was mit Eintracht Frankfurt passiert wäre, wenn an jenem 29. Mai 1971 auf dem Bieberer Berg etwas schiefgegangen wäre. Am vorletzten Spieltag der Saison kam es dort zum Duell der beiden abstiegsbedrohten Rivalen vom Main. Dass die Partie und damit auch die Saison ein gutes Ende nahm, lag maßgeblich an der 17. Minute. Bernd Hölzenbein flankt das Leder von der linken Seite in den Strafraum, Bernd Nickel legt sich am Elfmeterpunkt quer in die Luft und hämmert das Leder ins Kreuzeck. 1:0 für die Eintracht, bereits der zwölfte Saisontreffer für den torgefährlichsten Mittelfeldspieler seiner Zeit (13 am Saisonende). Hölzenbein legt noch das 2:0 nach, es war der letzte große Schritt in Richtung Klassenerhalt.

Bernd Nickel sagte viele Jahre später über das Tor: „Wenn ich das Tor nicht erzielt hätte, wären wir anstelle der Kickers abgestiegen. Und ich wäre zum FC Bayern München gewechselt, da war schon alles ausgehandelt.“ Zum Glück kam es anders. Bernd Nickel absolvierte fast seine gesamte Profikarriere in Frankfurt, holte vier Titel mit der Eintracht und landete sieben Mal unter den Top Sechs der Bundesliga mit den Adlerträgern – so oft wie sonst nur Karl-Heinz Körbel und Bernd Hölzenbein.

Wunderschönes Septett
Bernd Nickel schoss nicht nur drei Mal das „Tor des Monats“, sondern traf auch aus allen vier Ecken des Waldstadions per Eckball. 

Bernhard Trares, 16. Juli 1983
„Deutscher Meister, Tor des Monats – klasse!“ 

1860 München, Schalke 04 und der VfB Stuttgart waren schon ausgeschaltet. Im Finale um die Deutsche Meisterschaft der A-Junioren 1983 kommt es in Marburg zum Showdown gegen den 1. FC Köln. 10.000 Zuschauer, eine Hitzeschlacht, die Mannschaft von Klaus Mank gegen das Team von Christoph Daum. 38 Minuten sind gespielt, da fasst sich Bernhard Trares ein Herz und hämmert das Leder aus 25 Metern einfach mal drauf – 1:0! Holger Friz legt später noch das 2:0 nach, die Eintracht ist Deutscher Meister. „Etwas ganz Besonderes, klar. Deutscher Meister, dazu das ‚Tor des Monats‘ erzielt – das war klasse“, sagt Bernhard Trares heute. „Das war eine tolle Zeit. Wir hatten eine super Mannschaft, haben in der Endrunde vor vierstelligen Zuschauerzahlen gespielt. Klaus hat uns zu Riesenerfolgen geführt, im Jahr zuvor waren wir Zweiter in der U17“, erzählt der 55-Jährige, der später viele Jahre bei 1860 München spielte, mit Werder den DFB-Pokal gewann und als Trainer 2019 mit Waldhof Mannheim auf die Eintracht traf. In seiner Zeit als Aktiver legte er noch das eine oder andere Fernschusstor nach. „Nicht so hammerhart wie Bernd Nickel, aber jenseits des Strafraums habe ich gerne mal abgezogen“, schmunzelt der gebürtige Südhesse, dessen engster Kumpel in Eintrachts A-Jugend seinerzeit der nur einen Monat jüngere Manfred Binz war.

Doppelsieg
Auch der Treffer von Holger Friz schaffte es unter die Top Drei bei der Wahl zum Tor des Monats. „Zweiter oder Dritter, das weiß ich nicht mehr“, lacht Friz. Im ARD-Archiv findet sich Platz zwei. Doppelsieg für die Eintracht!

Jay-Jay Okocha, 31. August 1993
„Ich habe das Loch gesucht“ 

Es ist ein Tor für die Ewigkeit. Vielleicht DAS Eintracht-Tor aller Zeiten. Auf jeden Fall der einzige Treffer eines Adlerträgers, der es in 50 Jahren zu höchstmöglicher Weihe geschafft hat – zum Tor des Jahres. Es ist natürlich das legendäre Solo von Jay-Jay Okocha gegen den Karlsruher SC.

Elf Sekunden, fünf Haken, Oliver Kahns Kopf im Rasen des Waldstadion und ein gerade 20 Jahre alt gewordener Nigerianer, der sich das Trikot vom Körper reißt. Das ist die Kurzversion des Tores zum 3:1 für die Eintracht. Apropos Kurzversion: Fernsehreporter Jörg Dahlmann ruft bei der Zusammenfassung ins Mikrofon: „Liebe Zuschauer! Die Zeit für meinen Bericht ist abgelaufen, aber egal […]. Ich zeige Ihnen diese Szene bis zum Umfallen.“ Tat er auch, was freilich die Fernsehzuschauer erfreute. „Jay-Jay tanzt Oko-cha-cha” titelt die BILD-Zeitung am Tag, nachdem der Mittelfeldspieler die KSC-Defensive schwindelig gespielt hatte.

Okocha sagte später: „Nach dem Spiel kam Trainer Toppmöller zu mir und sagte, dass ich unter ihm nie wieder gespielt hätte, wenn der Ball nicht reingegangen wäre.“ Nach eigenen Angaben „acht, neun Mal“ habe Klaus Toppmöller „Schieß endlich, schieß“, gerufen. Okocha sieht das ganz nüchtern. „Ich habe das Loch gesucht.“ Und gefunden. Oliver Kahn kann mittlerweile über das „schönste Gegentor der Karriere“ lachen und sagte einst im Interview mit 11FREUNDE: „Jay-Jays Tor war genial.“

Der Pass war Bein
Der Pass auf Okocha vor dem legendären Solo kam von Uwe Bein, drei Jahre zuvor ebenfalls „Tor des Monats“-Torschütze für die Eintracht und durch seine messerscharfen Anspiele Anfang der 1990er Auslöser des Fanausspruchs „Der Pass war Bein“.

Christoph Preuß, 17. März 2007
Erst TV-Studium, dann „alles gewagt“

Natürlich kann Christoph Preuß die Entstehung des Tores heute noch wiedergeben, als ob es gestern gewesen wäre. „Mein damaliger Zimmerkollege Patrick Ochs hat eingeworfen, Ama [Ioannis Amanatidis; Anm. d. Red.] lässt prallen, Pati schlägt eine punktgenaue Flanke auf mich. Ich habe mich gegen Lucio in den Ball gelegt und ihn per Fallrückzieher top getroffen“, erzählt der 39-Jährige, der seit vielen Jahren als Teammanager der Eintracht-Profis arbeitet. Etwas ungläubig schaut er dem Ball hinterher, während Lucio fast auf ihn fällt. Dann dreht er jubelnd ab, denn Oliver Kahn hat keine Abwehrchance. Es ist das goldene Tor an jenem Samstagnachmittag gegen den FC Bayern München, das die Eintracht ein ganzes Stück näher an den Klassenerhalt bringt – und den Rekordmeister um Schweinsteiger, Lahm und Podolski fast endgültig aus dem Titelrennen wirft.

Zimmerkollege Ochs ist dabei nicht nur als Flankengeber ein entscheidender Faktor dieses Tores. Preuß erzählt: „Wir haben morgens im Hotel zusammen die schönsten Tore Europas geschaut und uns gedacht: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Es war der Auslöser, dass Preuß in der 78. Minute etwas für ihn Außergewöhnliches versucht. Mit Erfolg. Kurz darauf verletzte sich der Mittelfeldspieler gegen Cottbus am Oberschenkel. Als die Zuschauer ihn zum Torschützen des Monats wählten, lag Preuß im OP-Saal …

Rück und Seit
Fast genau ein Jahr zuvor trifft Christoph Preuß in München ebenso gegen die Bayern – dieses Mal per Seitfallzieher. Im Tor steht Kahn-Vertreter Michael Rensing.

Luka Jovic, 18. April 2018
„Mein schönstes und wichtigstes Tor“

Schöne Tore bekommen natürlich eine besondere Note, wenn sie auch eine große Bedeutung haben. Siehe Nickels Seitfallzieher zum Klassenerhalt oder der Trares-Knaller in Richtung Deutsche Meisterschaft. Vor rund drei Jahren vereint sich im Tor von Luka Jovic auf Schalke im DFB-Pokal-Halbfinale erneut traumhafte Technik mit einem Höchstmaß an sportlichem Stellenwert. Aber lassen wir Luka selbst erzählen: „Das Tor auf Schalke war das Schönste und Wichtigste, das ich bisher in meiner Karriere erzielt habe. In dieser Kombination kommt nur noch das Tor in Mailand in der Europa League ein Jahr später heran. Johnny de Guzman hat – perfekt wie immer – die Ecke von links getreten, ich bin dem Ball entgegengelaufen, hochgesprungen und habe ihn mit meiner rechten Hacke abgefälscht, so dass er in einem Bogen neben dem rechten Pfosten eingeschlagen ist.“ Die Eintracht siegte bekanntlich mit 1:0 in Gelsenkirchen, erreichte das Finale und holte den DFB-Pokal nach 30 Jahren wieder in die Bankenmetropole.

Wiederholungstäter
Fast genau ein halbes Jahr später gelingt Jovic bereits das nächste Tor des Monats, bei seinem Fünferpack gegen Fortuna Düsseldorf sticht sein Seitfallzieher heraus. Trainer des Gegners damals: Friedhelm Funkel, der 2007 als Eintracht-Coach den Preuß’schen Fallrückzieher aus nächster Nähe erlebte.

Daichi Kamada und André Silva, 13. Juni 2020
Solo, Hacke, Tor: Ein Gesamtkunstwerk
In 50 Jahren haben sechs Duos die Auszeichnung zum „Tor des Monats“ erhalten, darunter die kuriose Kombination aus Dirk Nowitzki und Rekordtorschütze Lukas Podolski. Im Juni des vergangenen Jahres verdienten sich Daichi Kamada und André Silva diese Belohnung beide redlich. Der Japaner hatte sich „wie ein österreichischer Slalomfahrer“ (O-Ton Trainer Adi Hütter) durch die Hertha-Abwehr gedribbelt, kurz vor der Grundlinie verzögert und dann auf Silva zurückgelegt. Der Stürmer beschreibt die Szene so: „Ich positionierte mich in der Mitte so, dass er mich anspielen kann. Er hat mir den Ball ein bisschen in den Rücken gepasst, ich war schon einen Schritt weiter vorne. Ich musste mich schnell entscheiden. Der einzige Weg, den Ball aufs Tor zu bringen, war, ihn mit der linken Hacke zu nehmen. Ein perfekter Spielzug!“ Der Treffer bedeutete die 2:1-Führung gegen die Hertha im Olympiastadion, in dem die Eintracht letztlich drei Punkte holt. „Ein Gesamtkunstwerk“, wie es Hütter später bezeichnete, und für Silva trotz seiner Vielzahl an Toren „das schönste meiner Karriere bisher“.

Haller, Jovic, Silva
André Silva ist in der Saison 2019/20 der dritte Adlerträger hintereinander, der bester Torschütze seiner Mannschaft innerhalb einer Saison wird und dazu ein Tor des Monats erzielt. Zuvor gelang dies Sébastien Haller 2017/18 und Luka Jovic 2018/19 – und davor lediglich in der kurzen Premierenspielzeit des „Tor des Monats“ (ab März 1971) Bernd Nickel 1970/71.