„Potenzial, auf dem wir aufbauen können“
Sportdirektor Siegfried Dietrich spricht kurz nach dem Saisonstart über seine persönliche Auszeit, die Saisonziele der Adlerträgerinnen sowie die Vermarktung im Frauenfußball.
Herr Dietrich, Sie haben sich eine rund
viermonatige gesundheitliche Auszeit genommen. Wie geht es Ihnen jetzt?
Nach der
gesundheitsbedingten konsequenten Auszeit geht es mir wieder richtig gut und
ich bin sehr froh, seit Anfang Juli wieder ins Geschehen bei Eintracht
Frankfurt eingetaucht zu sein. Mein Dank gilt der gesamten Eintracht und den
Teams in allen Bereichen, die mir in der wichtigen Pause Brücken gebaut und
mich so nachhaltig unterstützt haben. Nachdem die Fusion und Integration des 1.
FFC Frankfurt in die Eintracht-Familie nach intensiven Jahren in trockenen
Tüchern war und zwei persönliche Ereignisse Anfang 2021 nochmals klare Signale
für eine dringende Pause gesendet hatten, war es notwendig, auf diese zu hören.
Vorstandssprecher Axel Hellmann, Cheftrainer Niko Arnautis sowie meine
Kolleginnen und Kollegen haben mich bei dieser Entscheidung großartig
unterstützt. Für mich war es wichtig, alles zu unternehmen, um mit den
verschiedensten Maßnahmen wieder eine gesundheitliche Balance zu erlangen. Das
Handy abzuschalten und nicht auf die vielfältigen Nachrichten zu reagieren, war
für mich eine völlig neue Erfahrung.
Wie haben Sie in dieser Zeit die
Adlerträgerinnen verfolgt?
Ich habe aus
dem Off natürlich die tolle Entwicklung unserer Mannschaft in der Rückrunde bei
allen Spielen verfolgt und alle entscheidenden Dinge rund um die Eintracht in
gedämpfter Atmosphäre mitbekommen. Ich habe beim DFB-Pokalfinale von zu Hause
aus die Daumen gedrückt. Ich konnte – wie auch der gesamte Verein – nach dieser
Leistung kaum stolzer auf unsere Mannschaft sein. Unser Team hat gezeigt, was
es heißt, leidenschaftlich Fußball zu spielen und über die Grenze
hinauszugehen. Die Anspannung bis zum Gegentor kurz vor Ende der Verlängerung
war alleine zu Hause sicherlich noch schwerer zu ertragen als gemeinsam im
Stadion!
„Wir sind herzlich in der Adlerfamilie aufgenommen worden und konnten uns sehr schnell bestens integrieren“
Wie sieht Ihre persönliche Bilanz dieser
ersten Saison unterm Adlerdach aus?
Unsere
Premierensaison betrachte ich bei Berücksichtigung der für uns alle nicht ganz einfachen Zeit
als durchaus gelungen, nicht zuletzt durch den angesprochenen klasse Auftritt
unserer Mannschaft im DFB-Pokalfinale. Wir sind herzlich in der Adlerfamilie
aufgenommen worden und konnten uns sehr schnell bestens integrieren. Zudem hat
uns die großartige Aufnahme bei der Eintracht und das wertvolle Miteinander
sehr geholfen, den vor Jahren eingeschlagenen sportlichen Weg auch in der neuen
Heimat weiterzuführen. Die Mannschaft ist unglaublich gewachsen. Keine Frage:
Wir haben großes Potenzial, auf dem wir aufbauen können. Es ist größer, als es
allgemein bisher wahrgenommen wurde!
Wie sind die Erwartungen für die neue
Saison und wie würden Sie die Ziele der Eintracht Frauen definieren?
Wir wollen uns
weiter mit unseren Teamqualitäten festigen, mutigen, frischen Offensivfußball
zeigen und uns gleichzeitig mit Punkten belohnen, die wir in der vergangenen
Spielzeit teilweise liegengelassen haben. Wenn wir wie zuletzt in der Rückserie
und in den ersten drei Spielen der gerade begonnen Saison konstanter auftreten
und uns öfter belohnen, werden wir uns sicherlich den einen oder anderen
Tabellenplatz nach oben arbeiten können. Auch im zweiten Jahr gilt es, auf
allen Ebenen weiter zu wachsen. Gemeinsam mit unserem Vorstand haben wir dafür
klare Vorstellungen, wie und in welchen Entwicklungsstufen wir uns dem
Ligawettbewerb stellen. Dazu zählt neben wesentlichen Optimierungen in der
Infrastruktur vor allem der Entwicklungsprozess unserer Mannschaft. Wir haben
bereits einen großartigen und sehr talentierten Kader und setzen auch weiterhin
auf Spielerinnen, die sich in den vergangenen Jahren bei uns richtig gut
entwickelt haben. Sie bilden das Herzstück unserer Mannschaft und sind die
Garanten für die Umsetzung der Handschrift unseres Cheftrainers.
Einige Spielerinnen träumen von der
Champions League. Wie sehen Sie die Chancen?
Es ist schön zu erleben, wie sich unsere Spielerinnen
selbst pushen und mit Selbstbewusstsein sowie einer hohen eigenen
Erwartungshaltung auf die Saison hinfiebern! Dass im Wettbewerb um Platz drei
auch mittelfristig von einer Champions-League-Teilnahme geträumt wird, passt
zum „Wir-wollen-jedes-Spiel-gewinnen-Charakter“. Um uns aber nicht mit zu viel
Druck selbst im Wege zu stehen, geht es für die Verantwortlichen in erster
Linie darum, dass wir uns weiterentwickeln und natürlich auch in der Tabelle
nach oben orientieren. So sagen wir das auch unseren Mädels.
„Alles Spiele live im TV – das ist ein Meilenstein“
Ein wichtiger Baustein war jüngst die Vertragsverlängerung
mit Cheftrainer Niko Arnautis um zwei weitere Jahre bis 2024. Was zeichnet ihn
aus?
Niko ist der
Baumeister unserer aktuellen Mannschaft und für die erfolgreiche Entwicklung
einer ganzen Talentegeneration verantwortlich. Niko ist ein starker Motivator,
der mit seinem Know-how, seiner Zielstrebigkeit, seinem unbedingten
Siegeswillen und seiner menschlichen Art überzeugt und begeistert. Außerdem
sieht er mit seiner langjährigen Erfahrung wie wir das große Ganze. Wir möchten
uns durch unsere breit angelegten Förderungen in den U-Teams die Grundlagen für
unseren Anspruch schaffen, auch in der Spitze erfolgreich zu sein.
Erstmals werden alle 132 Partien der
Saison live gezeigt. Was bedeutet das für die Wahrnehmung der Liga?
Für die FLYERALARM
Frauen-Bundesliga ist es wirklich ein weiterer Meilenstein, dass mit Beginn der
neuen Saison alle Bundesligaspiele in gut platzierten Zeitfenstern bei Magenta
Sport, jeweils ein Highlightspiel bei Eurosport und in der ARD oder den dritten
Programmen live sowie in populären Sendungen wie der ARDSportschau in den
Nachberichten gezeigt werden. Wenn dann auch noch die Produktionsqualität
stimmt und die Übertragungen für wachsende Einschaltquoten gut promotet werden,
haben wir die nächste Präsenzstufe in Sachen Ligaattraktivität, Sichtbarkeit
und Wahrnehmung erreicht. Das ist ein wichtiger Schritt, um uns mit
Top-Argumenten als Liga und Vereine vermarkten zu können und uns weiter in der
Spitzengruppe der europäischen Ligen zu positionieren. Zudem gibt es in jeder
Runde des DFB-Pokals eine Partie live bei Sky sowie das Finale wie gewohnt in
der ARD. Die UEFA Women’s Champions League gibt es ab der Gruppenphase komplett
live bei DAZN zu sehen. Das ist eine insgesamt in allen drei Wettbewerben noch
nie dagewesene TVPräsenz des Profifrauenfußballs.
Was hat dies für Auswirkungen auf den
Frauenfußball insgesamt?
Der Kreislauf,
der durch die ständige Präsenz und die damit verbundene Wahrnehmung angeschoben
wird, liegt auf der Hand: mehr TV, mehr Sichtbarkeit, mehr Zuschauer, mehr
Sponsoren, mehr Einnahmen für ein wettbewerbsfähiges Budget und professionelle
Strukturen. Aber es liegt noch viel Arbeit für die Vereine, den DFB und die
Medien vor uns. Pausen von drei, vier Wochen sind einfach in jeglicher Hinsicht
kontraproduktiv und auch lähmend für den Aufbau einer größeren Fangemeinde, die
ständig am Ball sein möchte. Genauso steht aus guten Gründen eine
Ligaaufstockung auf mehr als zwölf Vereine auf der Agenda des Ausschusses
Frauen-Bundesligen weit vorne.
Als Vorsitzender dieses Ausschusses
haben Sie den Weit- und Ausblick auf die übergeordneten Themen des
gesamtdeutschen Frauenfußballs. Was ist hier von größter Bedeutung?
Das
Zuschauerinteresse rund um zukünftige Highlightspiele in großen Arenen wird
wachsen und nicht zuletzt werden auch die Topspielerinnen, wie schon lange
gefordert, angemessen mehr verdienen. Die Sportart ist ein wachsender
Wettbewerb, in dem sich unsere Vereine sportlich und wirtschaftlich
weiterentwickeln, mehr investieren, spannende Spiele Emotionen wecken,
Gesichter für unseren Sport Identifikation schaffen, der Beruf Profifußballerin
an Attraktivität gewinnt und damit das mediale Interesse auch neben dem
Fußballplatz zu einem neuen Asset für unsere Branche wird. Schon zu unseren
erfolgreichsten FFC-Zeiten sind wir rund um unsere vier ChampionsLeague-Titel
in der Vermarktung sehr erfolgreich und richtungsweisend für den gesamten
Frauenfußball gewesen. Wir müssen wieder mehr Gesichter im Frauenfußball
entwickeln, mit denen man unsere Klubs und die Nationalmannschaft als
DFB-Premiumprodukt nachhaltig identifiziert. Beste Beispiele dafür waren früher
beim FFC und dem DFB beispielsweise Birgit Prinz, Steffi Jones, Nia Künzer oder
auch Celia Sasic und Nadine Angerer.
Was kann die Eintracht konkret dafür
tun, um bei dieser Entwicklung mitzuhelfen?
Wir sind auf
einem guten Weg. Für die großen Klubs und für das Verständnis von modernem
Fußball-Management wird es zur absoluten Normalität, dass man auch die
Möglichkeiten des Frauenfußballs für unternehmerische Ziele nutzt. Viele
Klubverantwortliche mit Weitsicht haben die Chancen und Mehrwerte des
Frauenfußballs erkannt. Denn Fußball ist der Sport, der die Fans bis tief in
die Gesellschaft bewegt. Daher ist der ganzheitliche Ansatz von Eintracht
Frankfurt – und das nicht erst seit der Fusion –, den gesamten Fußball unter
einem Dach zu sehen, beispielhaft in Deutschland. Es ist die Intention von
Eintracht Frankfurt, in Zukunft mit dem Männer- und Frauenfußball unter einem
Dach noch mehr den Markt für Zuschauer, Medien und Sponsoren zu erschließen.
Bei unseren Heimspielen im Stadion am Brentanobad haben wir gerade mit einer
großen Videowand gemeinsam mit der Stadt und unserem Sponsor Mainova
Voraussetzungen für mehr Lebendigkeit geschaffen.
England ist Gastgeberland der EM 2022
und gilt als Vorreiter. Warum?
Ich bin sicher,
dass der Profifrauenfußball in Europa gerade vor der EM in England in ein neues
Zeitalter startet und insgesamt an Aufmerksamkeit und Wertschätzung gewinnt.
Die Bedingungen und Strukturen in den Vereinen, die Männer- und Frauenfußball wie
die Eintracht im Gesamtpaket anbieten, werden immer besser. Gerade in England
gibt es ein großes gesellschaftliches Selbstverständnis für den Frauenfußball.
Das hat dazu geführt, dass viele große Klubs, TV-Sender wie Sky und BBC und
Sponsoren durch bedeutende Investitionen in die Liga für Wahrnehmung und
Sichtbarkeit gesorgt haben. Das zieht natürlich auch die großen
Spielerinnennamen an, wenn mehr Geld im Spiel ist. Klar, dass die EM schon im
Vorfeld einen großen begleitenden Schub auslöst, der schon jetzt auch Signale
in die Frauenfußball-affinen Länder wie Deutschland schickt. Gemeinsame
werbliche Aktionen und Präsenzen in den Social-Media-Kanälen schaffen höhere
Aufmerksamkeit und ein breiteres Interesse und binden Familien an den Fußball.
Nach COVID-19 wird es für die Emotionalität für unseren Sport wichtig sein,
auch nach und nach wieder mehr Zuschauer in die Stadien zu bekommen und unsere
Spiele für die Fans zu Erlebnissen zu machen.
Interview: Paul
Schönwetter
Fotos: Carlotta
Erler, Jan Hübner, Bianca Jockel