„Ein Stück Normalität ist zurück“

Es war ein fast schon historischer Moment auf der Pressekonferenz anlässlich der Kampagne „Eintracht in der Region“, bei der der Hessische Ministerpräsident und Schirmherr Volker Bouffier im Deutsche Bank zu Gast war. Im Medienraum verkündete er das, worauf die Eintracht 25 Monate gewartet hatte: Zum Bundesligaspiel gegen Greuther Fürth darf das Frankfurter Stadion wieder voll ausgelastet werden. Über 50.000 Zuschauer waren gegen die Franken im Deutsche Bank Park, acht Tage später kamen 47.000 gegen den SC Freiburg. Die „Eintracht vom Main“ hat am Rande der Partien zwei Gruppierungen am Spieltag begleitet: den Eintracht-Fanclub EFC Bieber auf der Fahrt von Gelnhausen zur Partie gegen Fürth und eine Frankfurter Clique bei ihrer Tour durch Sachsenhausen bis zum Deutsche Bank Park gegen Freiburg.

Reportage: Michael Wiener
Bilder: Franziska Rappl, Martin Ohnesorge

(SGE-SCF) Sonntagnachmittag, Frankfurt, Stadtteil Sachsenhausen, Wallstraße:
Noch viereinhalb Stunden bis zum Anpfiff. Die Sonne lugt zwischen den Wolken hervor, die Temperaturen sind frühlingshaft. Dort, wo abends und nachts die Straße belebt ist, ist es ruhig. In der Wallstraße reiht sich Gaststätte an Gaststätte, der Stadtteil Sachsenhausen ist insbesondere im Bereich „Alt-Sachs“ ein Anziehungspunkt für Frankfurt-Besucher. Eines der ältesten Apfelweinlokale Sachsenhausens ist die Atschel. Und typisch ausgestattet: An den Wänden hängen Bilder mit Äpfeln, Speise- und Getränkekarte sind mit Kreide auf eine Tafel geschrieben, es ist gemütlich, man ist schnell per Du mit dem Personal, auf jedem Tisch steht ein Bembel. Mindestens. An diesem Nachmittag ist die Atschel gut gefüllt. Die Besucher tragen Schals, T-Shirts, Pullis und Kappen der Eintracht. 

Vorne links sitzen Heiko Winkler und seine Freunde. Es geht gesellig zu, die Stimmung ist gut, typische Frankfurter Gerichte wie Schnitzel mit Bratkartoffeln und Grüner Soße sind gerade verzehrt worden. „Hier starten wir meistens in den Heimspieltag“, erzählt Winkler, dessen Vater beim Endspiel 1959 im Stadion war und somit die einzige Deutsche Meisterschaft der Eintracht hautnah erlebte. „Ich habe die Eintracht im Blut“, sagt er. Das trifft auch auf Nadine Zander zu, beide kennen sich bereits seit über zwei Jahrzehnten aus der gemeinsamen Zeit auf der Berufsschule. „Gut essen, Apfelwein trinken, dummes Zeug babbeln und sich mit Freunden auf das Spiel einstimmen. Das gehört für uns zu einem Heimspieltag, den wir auf diese Weise zelebrieren“, erläutert sie und zeigt ihr Attila-Tattoo auf der Schulter. Zwischen den beiden sitzt Sandra Reif, Winklers Freundin.

(SGE-Fürth) Samstagnachmittag, Gelnhausen, in einem Reisebus:
Der EFC Bieber ist on tour, die letzten Fahrgäste sind soeben eingesammelt worden. Der Bus ist gut gefüllt, nachdem einige Haltestellen in der Spessart-Gemeinde Biebergemünd und in Gelnhausen angefahren worden waren. Christoph Ickes greift zum Mikrofon und begrüßt die Reisegruppe: „Die erste Fahrt unter normalen Umständen, wir freuen uns drauf. Viel Spaß und natürlich wollen wir einen Heimsieg unserer Eintracht sehen“, schließt Ickes seine kurze Ansprache. Applaus brandet auf, während das Vorstandsmitglied sich auf den Weg durch den Bus macht, um Karten zu verteilen und von den Barzahlern noch ein, zwei Scheine entgegenzunehmen. 

(SGE-SCF) Sachsenhausen, in der Atschel:
Heiko Winkler und seine Mitstreiter lassen die Woche Revue passieren, reden über Privates, den Fußball und vieles mehr. Es ist der Tag von Nadine Zanders Geburtstag, am Abend vorher wurde reingefeiert. Und auch am Donnerstagabend zuvor nach dem Hinspiel gegen Barcelona war es spät – oder früh, wie man will. „Wir sind gerne gesellig, treffen uns immer zum Fußball gucken und genießen die Zeit zusammen. Es war schon traurig, dass all dies zumindest phasenweise während der Coronapandemie nicht möglich war“, erzählt das Geburtstagskind, das „schon ein bisschen aufgeregt“ ist vor jedem Spiel. Ihr Bruder Nico, den alle in Anlehnung an den ehemaligen Eintracht-Spieler Urs Güntensperger nur „Urs“ nennen, ist heute auch dabei. Er ist Dauerkarteninhaber, seit seinem 14. Lebensjahr Stammgast im Stadion. Der Vater hat bis zur A-Jugend bei der Eintracht gespielt. „Die Liebe zur Eintracht ist uns mehr oder weniger in die Wiege gelegt worden“, sagen beide. Eine Aussage, die an diesem Tag öfter fällt. 

Die Freunde identifizieren sich mit Frankfurt, einige wohnen in Sachsenhausen oder in anderen Stadtteilen, der Lokalpatriotismus ist groß. Ihr Viertel, ihr Kiez ist Sachsenhausen, ihr Revier ist das Gebiet in und um die Wallstraße. „Hier ist unsere Rambla, hier sind wir zu Hause“, sagt Heiko Winkler mit stolzer Stimme. Er trägt wie seine Verlobte Sandra Reif ein Shirt mit der Aufschrift „Friendfurter“, der Name der Werbeagentur, in der er gemäß Slogan „Kreativität unter Freunden“ anbietet. Schräg gegenüber, im Safran & Sauerkraut, ist er mit Kumpels einem Verein beigetreten, um dort in geschlossener Gesellschaft die Eintracht schauen zu können, da die Gaststätte keine Sky-Lizenz für den öffentlichen Gebrauch hat. Aus dem Verein könnte bald ein Eintracht-Fanclub werden. Es wäre nicht der erste EFC für Tausendsassa Winkler, er ist bereits beim EFC Schobberobber Mitglied.

(SGE-Fürth) Autobahn zwischen Hanau und Deutsche Bank Park:
Kleine Umfrage unter den Mitreisenden, warum sie sich beim EFC Bieber so wohlfühlen. Häufigste Antwort: „Weil es hier sehr familiär zugeht.“ Alle Altersklassen sind im Bus vertreten, der Frauenanteil sei über die Jahre gewachsen, man treffe sich auch zu Saisonabschlussfeiern und Wanderungen. Und natürlich, weil alle Eintracht-Fans sind. Fans und Familie – Christoph Ickes bringt die Verbindung mit einem Lachen in zwei Sätzen auf den Punkt: „Mein Vater, Onkel, die Cousins sind alle Eintracht-Fans. Entweder bist du Eintracht-Fan, oder du wirst zur Adoption freigegeben“, erzählt er. Seine Frau Lena sitzt im Eintracht-Trikot neben ihm und nickt, auch sie ist regelmäßige Stadiongängerin. 

„Die Liebe zur Eintracht ist uns in die Wiege gelegt worden“

(SGE-SCF) Sachsenhausen, zwischen Wallstraße und Südbahnhof:
Heiko Winkler und seine heute neunköpfige Gruppe haben sich mittlerweile auf den Weg Richtung Stadion gemacht. Während das obligatorische Warmsingen in der Atschel aufgrund der zahlreichen Feierlichkeiten der vergangenen Tage etwas spärlicher ausfiel, läufts jetzt besser. Als Nadine Zander laut „Ein-tracht“ ruft, erwidert die Gruppe – und ein etwa zehn Jahre alter Junge, ein paar Meter entfernt auf einer Mauer sitzend – ebenso energisch: „Frankfurt“. Mit dabei ist auch Benno Engel. Er ist eigentlich Kölner mit Sympathien für den FC, lebt aber seit 40 Jahren in Frankfurt und ist in der Mainmetropole ein bunter Hund. „Ich bin mit der Stadt verbunden, kenne hier viele Leute, natürlich auch viele Eintracht-Fans, und kann mich mit diesem Verein mittlerweile fast mehr freuen als mit dem FC.“ Kennengelernt hat er Heiko Winkler beim 5:1 der Eintracht gegen die Bayern vor knapp drei Jahren. „Ich habe mich so sehr für die Eintracht gefreut an diesem Tag. Da kommt einer und sagt zu mir: ‚Warum hast du nix von der Eintracht an?‘ Ich erwiderte: ‚Ich habe noch nix.‘ Da hat er seinen Hoodie ausgezogen und ihn mir geschenkt. Das war Heiko!“ Daraus entstand eine Freundschaft, und Engel trägt den Hoodie auch heute regelmäßig. „Er hält schön warm.“ 

(SGE-Fürth) Autobahn 3, Abfahrt Frankfurt Süd:
„Eintracht vom Main“ ertönt aus den Boxen, als der Bus des EFC Bieber sich in der Mörfelder Landstraße in die Auto schlange einreiht. „Endlich mal wieder Stau“, ruft einer, als das Lied zu Ende ist. Auch das gehört bei der Busanreise zu einem echten Heimspieltag, über zwei Jahre hatte es das nicht gegeben – zumindest nicht wegen der Masse an motorisierten Fußballfans. Thomas Engel berichtet aus seinen 40 Jahren mit dem EFC Bieber, vom UEFA-Pokalfinale 1980 im G-Block, von Rostock und Bordeaux, von seiner „Wanderung“ im Bus: „Hinten sitzen meist die Jüngeren, obwohl es heute mehr durchmischt ist. Trotzdem sitze ich heute weiter vorne als früher“, schmunzelt er. Als das erste seiner mittlerweile drei Kinder auf die Welt kam, gab er seine Dauerkarte zurück und fuhr seltener mit; heute ist der älteste Sohn auch hin und wieder dabei. „Die Stimmung im Bus ist immer gut“, sagt er. Zum festen Ritual hat sich die Kombikiste entwickelt. „Fünf Euro zahlen und dann so viel trinken, wie man möchte“, erklärt Christoph Ickes die Regel, geboten werden auch antialkoholische Getränke. Ist die Fahrt länger, wird mehr getrunken – und dementsprechend nachgeschossen. „Als wir vor vier Jahren nach Rom gefahren sind, waren einige Leute kurzfristig krank. Die haben sich dann per Handy gemeldet und Kisten gesponsert“, erinnert sich Ickes an die Fahrt, als die Daheimgebliebenen mehr zahlten als die durstigen Mitfahrer. 

(SGE-SCF) Sachsenhausen, Diesterwegplatz:
Die Reisegruppe Winkler hält an der Gaststätte Zum Sternchen. In Sichtweite ist der Südbahnhof, wo Busse in Richtung Deutsche Bank Park fahren. „Wir nehmen dann gleich den 80er, der bringt uns direkt vors Stadion“, sagt Winkler, während die Kollegen schon die Bestellung aufgegeben haben und sogleich einige Halb-Liter-Gerippte gebracht werden. Der Platz ist gut gefüllt mit Eintracht-Fans, die sich nochmal (zumeist flüssig) stärken oder auf einen der Busse warten. Zeit für Alex Michalakis und Alexander Kilian, von ihrem ersten Date zu berichten. Alexander erzählt: „Alex hat griechische Wurzeln. Ich hatte eigentlich beim Griechen einen Tisch reserviert. Da sagte sie: Die Eintracht spielt gegen die Bayern, wollen wir das nicht gucken? Ich dachte: Geil, sie ist auch Eintracht-Fan! Wir sind nicht zum Griechen, haben stattdessen bei Fast Food das Spiel geschaut“, lacht Kilian, auch Frankfurter. „Es macht wieder Spaß, auf dem Weg zum Stadion Bekannte zu treffen, sich auszutauschen, im Rudel zum Stadion zu gehen. All das hat zwei Jahre gefehlt.“ Sein prägendster Eintracht-Moment: Bei einem Radiosender hatte er eine Livesendung aus seinem Wohnzimmer gewonnen, plötzlich rief der Moderator die Hörerschaft zum Besuch in der Metzlerstraße auf. Wenig später trat der Polizeichor Frankfurt vor dem Haus auf und gab „Im Herzen von Europa“ zum Besten. „Ich hatte Gänse - haut.“ Freundin Alex betont in diesem Zusammenhang insbesondere die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs. „Wenn wir Fußball schau - en, treffen sich Leute, die völlig verschieden sind und es völlig egal ist, wer wo arbeitet und wer wie viel Geld verdient. Es gibt keine gesellschaftlichen Barrieren. Das hat zwei Jahre in dieser Form gefehlt. Ein Stück Normalität ist zurück.“ 

„Endlich wieder Stau“ 

(SGE-Fürth) Parkplatz Gleisdreieck:
Der Bus aus Bieber ist der erste auf dem Parkplatz. Dennoch muss er sich durch die Menschenmenge durcharbeiten. Die organisierte Fanszene ist zurück, es herrscht wieder Hochbetrieb am Gleisdreieck unweit der Unterführung. „Wir bleiben noch ein bisschen hier, es ist noch früh“, sagt Nils Senzel, der bei einer der kuriosesten Fahrten der jüngeren Vereinsgeschichte dabei war. Auf dem Weg nach Leipzig streikte bereits kurz hinter Fulda der Bus. Nur eine kleine Gruppe um Senzel, eingesammelt von einem Siebensitzer eines Familienangehörigen, erreichte die sächsische Metropole – aber auch erst zur Halbzeit. 

(SGE-SCF) Zwischen Südbahnhof und Deutsche Bank Park, im 80er:
Der Bus ist pickepackevoll auf dem Weg über die Mörfelder Landstraße. Je näher das Stadion kommt, desto mehr Fußgänger sind zu sehen. Das Eintracht-Feeling bei der Anreise, zwei Jahre in dieser Form nicht erlebt, ist zurück. Das genießt auch Hans-Jürgen Bauer, den alle nur Jü nennen. Er ist privat und geschäftlich eng mit Heiko Winkler verbunden. „Jeder hat seine privaten Verpflichtungen. Aber für die Eintracht wird der Terminplan immer angepasst. Ich gucke gerne in Gesellschaft, da ist mir die Eintracht sehr wichtig“, berichtet er, als der Bus den Oberforsthauskreisel umrundet. Die Sonne lacht, der Fuß- und Radweg ist voll mit Adlerträgern, die Vorfreude auf das Spiel steigt. „Durch die Eintracht sind Freundschaften und Beziehungen entstanden, die Eintracht ist unser Leben. Diese Rituale am Spieltag, in Sachsenhausen unter Freunden mit einem guten Essen zu starten und uns dann bis zum Waldstadion vorzuarbeiten, gehören am Heimspieltag einfach dazu.“ 

(SGE-Fürth) Parkplatz Gleisdreieck:
Winfried Geis (Bild Seite 37, 5.v.l.) ist wie selbstverständlich bei der Fahrt des EFC Bieber dabei. Kurz nach der Gründung des Vereins 1973 – damit bilden die Bieberer den ältesten offiziellen Eintracht-Fanclub – ist er eingetreten, wenig später hat er das Amt des Kassenwarts übernommen. Dies hat er auch heute noch inne. „Wir haben viel von der Welt gesehen. Unsere allererste Busreise überhaupt ging nach München, wo die Eintracht 1974 zur Oktoberfest-Zeit spielte“, schwelgt Geis in Erinnerungen und präsentiert sich als Mann der (Finanz-)Zahlen. „315 Mitglieder, darunter 60 Dauerkarteninhaber sind im Verein. Angefangen haben wir natürlich ganz klein. Dafür waren bei uns damals Grabowski, Hölzenbein, Weise, Kunter und Trinklein zu Besuch, weil wir der erste Eintracht-Fanclub waren“, erzählt er. So langsam herrscht Aufbruchstimmung auf dem Parkplatz, nur noch eine halbe Stunde bis zum Anpfiff. 

(SGE-SCF) Fantreff am Deutsche Bank Park:
Die Reisegruppe Winkler steht an einem Bistrotisch am Fantreff. Noch etwas über eine halbe Stunde bis zum Spielbeginn, Alex genießt noch eine Currywurst. Thomas Kastner hat vor 25 Jahren seine erste Dauerkarte erworben, lebt mittlerweile in Sachsenhausen und hat einst mit Heiko Winkler zusammengearbeitet. „Ich bin zwar in Braunschweig geboren, aber der Eintracht aus Frankfurt seit meinem Umzug in die Mainmetropole im Alter von drei Jahren zugewandt. Unsere Gruppe ist in der Pandemiezeit noch mehr zusammengewachsen“, sagt er, auch wenn die Zeit ganz ohne Stadionbesuch natürlich „nicht schön“ gewesen sei. Seinem Schwiegervater gehört ein Restaurant in Sachsenhausen, dort wohnt er auch, er liebt die Eintracht – fast schon zwangsläufig fühlt er sich in dieser Reisegruppe pudelwohl. Ein Getränk noch am Fantreff, dann geht’s rein in den Deutsche Bank Park. 

„Jeder hat seine Verpflichtungen. Aber für die Eintracht wird der Terminplan angepasst“

Mit Betreten des Stadiongeländes haben wir uns von den beiden Gruppen verabschiedet. Später haben wir erfahren, dass die sportlichen Resultate (0:0 gegen Fürth, 1:2 gegen Freiburg) zwar etwas die Stimmung nach dem Spiel gedrückt haben, für alle stand jedoch im Vordergrund, dass ein Stück Normalität zurückgekehrt ist. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang, dass zwischen diesen beiden Bundesligapartien der Deutsche Bank Park im Hinspiel des Europa-League-Viertelfinals gegen den FC Barcelona bei Vollauslastung ausverkauft war – das erste Mal seit Pandemiebeginn. Wir freuen uns, dass alle wieder in den Deutsche Bank Park kommen dürfen!