Europas Beste Mannschaft
Der Triumph von Sevilla gleicht einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Die Auswirkungen sprengen dennoch jede Vorstellungskraft. Eine Energieleistung auf allen Ebenen.
Prolog: „... morgen auf dem Römer“
„Morgen wird gigantisch“, beschrieb Sebastian Rode das
allgegenwärtige Stimmungsbild am Abend vor dem Finale so zielsicher, wie seine
Kollegen im Estadio Ramón Sánchez-Pizjuán die Elfmeter zur Ekstase
verwandelten. Der Kapitän sprach allen Adlerträgern aus der Seele, als er
bekannte, dass die Gefühlslage mit der Aussicht, den Europapokal nach Frankfurt
zu holen, seit dem Halbfinalsieg gegen West Ham nicht mehr auszublenden sei.
Noch weiter ging Martin Hinteregger, als er eine Stunde vor dem Anstoß in
Sevilla bei EintrachtTV ohne eine Miene zu verziehen seine „Vorfreude, morgen
auf dem Römer zu stehen“ kundtat. Ein alternatives Szenario konnte und wollte
sich weder im Team noch im Umfeld noch in der Stadt jemand vorstellen.
Rückblickend zugegeben leicht gesagt und doch als im Unterbewusstsein
verankerter Faktor nicht von der Hand zu weisen. Kevin Trapp dachte an „Karma“,
Axel Hellmann sprach von „Metaphysik“. Bisher hat dem niemand widersprochen.
Was die Protagonisten sagten, äußerte sich flächendeckend in Bildern für die Ewigkeit. Kaum eine Hausfassade in der Mainmetropole, an der keine Fahnen oder Schals prangten, zehntausende weißbekleidete Menschen in Spanien, ein Deutsche Bank Park, in dem mehr Leute zum Public Viewing erschienen, als das Finalstadion Plätze bot. Zudem ein TV-Publikum von im Schnitt 8,99 Millionen, was RTL einen Markanteil von 39,5 Prozent und die erfolgreichste Europa-League-Übertragung aller Zeiten bescherte.
I. Akt: Gänsehaut bei 36 Grad
Wie stark dieser Glaube sowohl von außen als auch innen
wirken kann, stellten auch die Offiziellen nicht zum ersten Mal, aber
nachdrücklich wie nie heraus, als Vorstandssprecher Axel Hellmann, Präsident
Peter Fischer, Sportvorstand Markus Krösche, Vereinslegende Karl-Heinz Körbel
und Niko Arnautis, der just die Frauen in die Champions League geführt hatte,
am Dienstagabend in der „Frankfurter Botschaft“ die geladenen Mitarbeiter,
Medienvertreter und Ehrengäste auf das bevorstehende Husarenstück einschworen.
In ähnlicher Konstellation schürte unter anderem Präsident Fischer rund fünf
Stunden vor dem Anstoß auf dem Prado de San Sebastián das Feuer bei den Fans.
Und doch war Gänsehaut in der andalusischen Hitze bei bis zu 36 Grad Celsius
angesagt.
II. Akt: Respekt statt Rivalität
Dafür sorgten am Ort des Spektakels sodann mit Öffnung der
Stadiontore so ziemlich alle der rund 40.000 Zuschauer. Fangesänge aus beiden
Kurven, solange die Kehlen mitmachten, eine martialische Choreografie im
Eintracht-Lager mit den Lettern „Heilige Diva vom Main, bitte für uns“. Die
Schlacht um die europäische Krone fand erwartungsgemäß nicht nur auf dem Rasen,
sondern nicht weniger auf den Rängen statt. Und wie kurz vor Mitternacht im
Sechzehnmeterraum vor der blauen Rangers-Kurve behielt auch die hessische
Anhängerschaft trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit die Oberhand. Der sportliche
Teil ist genauso eine Geschichte für sich wie die Feststellung, dass der
Rivalitätsgedanke auf den Tribünen schlicht nicht zu erkennen war. Die
gegenseitigen Respektbekundungen nehmen auch Tage später nicht ab.
III. Akt: Geflasht, gecrasht
Was sich nach dem fünften Elfmetertreffer von Rafael Santos
Borré abspielte, kannste dir nicht ausdenken. Sprints in alle
Himmelsrichtungen, die nach 131 Spielminuten im 48. Saisonspiel körperlich
eigentlich nicht machbar erschienen, hier Eintrachtler, die vor Ungläubigkeit
kurzzeitig erstarrten, da Wasserfälle an Tränen und Live-Interviews, die durch
kein Briefing der Welt entstehen könnten. Die Liebesgrüße von Kevin Trapp („Schau
dir das an! Schau dir das an! Ohne die Fans hätten wir es nicht geschafft ...
Schau dir das an!“) sind dabei nur eines der prominentesten Beispiele. Nicht
ganz so unerwartet war schließlich die Bierdusche, mit der die Fußballer Oliver
Glasner bedachten, als sie die Pressekonferenz crashten. Der Chefcoach, nach
Ernst Happel der zweite österreichische Trainer überhaupt, der einen
Europapokal gewann, kündigte alsbald grinsend vier Tage Dauerfeier an.
Epilog: Ausnahmen und Anekdoten
Diese zog sich nicht nur bis zum Morgengrauen durch die
südspanischen Straßen, sondern fand wie angekündigt am Donnerstagabend im
Herzen von Europa ihre Fortsetzung. Um nicht zu sagen: Das Vorglühen war
vorbei, die wirkliche Feier begann. Schon schnell nach der Landung um 17.40 Uhr
zeichnete sich ab, dass der angestrebte Zeitplan nicht zu halten war. Eine
Stadt stand Kopf, der Autokorso kam nach 21 Uhr an, als das Prozedere
eigentlich seinen Abschluss hätte finden sollen.
„Ich habe Hinti noch nie so viel reden hören wie gerade“, lachte der auf dem Balkon mit einem Sonderlob vom Österreicher bedachte Kevin Trapp mit feuchten Augen und plauderte schließlich aus dem Nähkästchen: „Als ihr 2018 den DFB-Pokal geholt habt, habe ich mir das während eines eigenen Spiels live auf dem Handy angeschaut, weil es für mich das Größte war, zu sehen, wie ihr einen Pokal nach Hause geholt habt. Deshalb habe ich mir vor dem Finale nochmal die Highlights von damals angeschaut. Mein größter Wunsch war, so etwas nochmal mit euch feiern zu dürfen.“ Dass „Europas beste Mannschaft“ mit ihren Auftritten irgendwann für Europas beste Party sorgen würde, hätte der Nationalkeeper bei seiner Rückkehr aus Paris vor vier Jahren sicher nicht gedacht.
Von Spieltag eins bis zum Römer
Auf den folgenden Seiten zeigt die EvM-Redaktion nochmal den
Weg ins sowie vom Finale – mit Bildern vom ersten Gruppenspiel gegen Fenerbahce
bis zum Tag nach dem Titelgewinn auf dem Römer. Dazu alle Stenogramme, Stimmen
von Beteiligten und Medien. Viel Spaß beim Durchblättern!
Text: Daniel Grawe
Fotos: Bianca Jockel, Max Galys, Jan Hübner, Felix Leichum,
Lucas Körner, Martin Ohnesorge, Andreas Wolf
Zusammengestellt von Michael Wiener