„Mit meinem Onkel auf der Terrasse gekickt“
In einem ausführlichen Interview verrät Rafael Borré, wie es ist, in Kolumbien aufzuwachsen. Er spricht außerdem über seiner Karriere als Profifußballer. Dabei sammelte er seine ersten Kontakte mit dem runden Leder damals noch nicht auf der Stürmerposition …
Interview: Redaktion
Fotos: Max Galys, imago images
Rafael, du wurdest in Barranquilla, der viertgrößten
Stadt des Landes im Norden am Meer, geboren, bist aber etwa 300 Kilometer
weiter ins Landesinnere nach Valledupar gezogen, als du fünf Jahre alt warst.
Erinnerst du dich an die Zeit, in der du dich in den Fußball verliebt hast?
Mein Vater nahm mich damals mit in die Fußballschule, damit
ich mit den anderen Kindern zusammen spielen konnte. Aber zu diesem Zeitpunkt
war es nur ein Spiel, ein Zeitvertreib. Ich habe damals mit meinen Freunden
barfuß auf der Straße gespielt, in meiner Nachbarschaft, einfach um Spaß zu
haben. Besonders erinnere ich mich aber an meinen Onkel, der Fußball liebte und
diese Liebe Jahr für Jahr an mich weitergab. Wir haben auf der Terrasse zu
Hause immer gekickt.
„In diesem Alter (zehn, elf Jahre) begannen meine Familie, meine Nachbarn und meine Eltern zu glauben, dass ich mich von anderen abheben würde“
Wie alt waren die Kinder aus den anderen Vierteln, als
sie anfingen, sich vor deinen fußballerischen Fähigkeiten zu fürchten?
Ich glaube, das geschah, als ich zehn oder elf Jahre alt
war. In diesem Alter begannen meine Familie, meine Nachbarn und meine Eltern zu
glauben, dass ich mich von anderen abheben würde. Sie hielten mich nicht für
einen zukünftigen Profispieler, aber ich fing an, unter den Kindern, die mit
mir spielten, hervorzustechen. Wenn es in unserer Nachbarschaft ein Kind gab,
das sehr gut war, nahm man es mit, um gegen ältere Kinder zu spielen. Auf diese
Weise konnte getestet werden, ob man gut genug für diese Art von
Herausforderung war. Es hat mir immer Spaß gemacht, gegen Ältere zu spielen.
Wie war die Situation, bevor du entschieden hast, nach
Deportivo Cali zu gehen?
Es war sehr schwer, denn ich war zwölf oder 13 Jahre alt und
musste meine Eltern verlassen. Ich bin in Barranquilla aufgewachsen, und
Deportivo Cali wollte mich in die Stadt Cali bringen, damit ich in der Akademie
mitspielen kann. Natürlich ist es für Eltern nicht einfach, von ihrem Kind
getrennt zu sein, vor allem, wenn es noch so jung ist. Ich denke, es war eine
schwere Entscheidung, aber andererseits war es das, was ich tun wollte, was mir
gefiel.
Man munkelt, dass du als Kind ein großer Torwart warst.
Ja, mein erstes Idol war Óscar Córdoba. Er war ein Torhüter,
der eine große Karriere bei uns in Kolumbien hatte, und ich habe ihn lange Zeit
verfolgt, weil ich mich mit seinem Charakter und seiner Persönlichkeit
identifizieren konnte. Natürlich hat sich der Fußball für mich dann verändert,
als ich die Position wechselte. Das hat meine Sichtweise auf das Spiel ein
wenig verändert, und so habe ich mich natürlich auch für andere Spieler
interessiert. Ich habe mich sehr mit Radamel Falcao und Robin van Persie
identifiziert. Sie sind die beiden Stürmer, die ich während meiner gesamten
Karriere verfolgt habe. Ich bewundere sie schon so lange, wie ich Fußball
spiele.
Was bedeutet es, Kolumbianer zu sein, mit den Rhythmen
und Ideen des Landes aufzuwachsen und von seiner Geburtsstadt beeinflusst zu
werden?
Barranquilla ist eine sehr fröhliche Stadt, sie ist sehr
dynamisch, die Menschen dort sind voller Emotionen und Energie. Das ist etwas,
was oft viel wert ist, wenn die schlechten Momente kommen. Es gibt dir die
Fähigkeit, die Dinge gut zu nehmen. Wenn es mal nicht gut läuft, mache ich
weiter und gebe mein Bestes. Ich denke, die Mentalität und Kultur meiner Heimat
haben mir geholfen, viele Hindernisse zu überwinden. Kolumbianisch zu sein
bedeutet Freude zu haben, hart zu arbeiten und immer das Beste für sich und
seine Familie zu wollen.
Warum ist der Fußball in Kolumbien so tief in den Seelen
der Menschen verwurzelt?
Die Menschen in Kolumbien sind natürlich sehr
leidenschaftlich, sie sind mit ganzem Herzen dabei und verfolgen den Fußball
sehr genau. Meiner Meinung nach sind sie jedoch sehr schnell demotiviert, wenn
die Dinge schlecht laufen. In Kolumbien müssen wir etwas geduldiger sein, was
die Abläufe angeht. Ich glaube, wir sind so leidenschaftlich, dass wir uns oft,
wenn etwas nicht auf Anhieb funktioniert, komplett gegen diese Dinge wenden.
Ich hatte das Glück, vier Jahre in Argentinien zu verbringen, wo Fußball für
viele Menschen eine Religion oder eine Lebenseinstellung ist. Ihre Tagesstimmung
hängt davon ab, ob ihre Mannschaft gewinnt oder verliert, ob sie gut oder
schlecht ist. Sie kann von einer Woche zur nächsten völlig anders sein. Was ich
in Argentinien erlebt habe, hat mir gezeigt, mit welcher Leidenschaft und Liebe
die Menschen für den Fußball und ihre Vereine leben.
Wenn wir uns deinen Status hier anschauen, deine
Qualität, die Reife, die du an den Tag legst – du hast mit Eintracht Frankfurt
die Europa League gewonnen. Hast du diesen Punkt erreicht, weil du geduldig
geblieben bist und einen klaren Kopf bewahrt hast?
Auf jeden Fall. Ich versuche immer, mir diese Zeit zu
nehmen, um mich zu konzentrieren und einen Plan zu haben. In River habe ich
viele Dinge gelernt, zum Beispiel wie man mit Situationen im Verein umgeht, in
denen es nicht so läuft wie gewünscht. Als ich bei der Eintracht ankam, war
meine Einstellung natürlich immer die gleiche. In den ersten Spielen, in denen
es viele neue Spieler gab, lief es nicht so gut. Und ich war an eine Mannschaft
gewöhnt, die in Südamerika wirklich herausragend war. Deshalb war es anfangs
enttäuschend für mich, weil wir nicht zu unserem Spiel gefunden und nicht viele
Torchancen herausgespielt haben. Das kann einen sehr frustrieren, aber dann
kommt es auf die Fähigkeit jedes einzelnen Spielers an, sich zu verbessern und
die Dinge so zu interpretieren, dass man das Beste aus ihnen herausholt, um auf
höchstem Niveau zu konkurrieren.
„Es macht mich sehr glücklich, bei einem Verein zu sein, dessen Fans sich wirklich mit ihm identifizieren“
Nach dem Gewinn dieser schönen Trophäe – war es besser in
Frankfurt den Sieg zu feiern oder im Sommer nach Kolumbien zurückzukehren?
Ich glaube, die Feierlichkeiten in Frankfurt waren völlig
verrückt. Ich persönlich hatte das Glück, mit River Plate mehrere Titel zu
gewinnen und diese schönen Momente zu erleben, wenn man eine Meisterschaft
feiert. Aber um ehrlich zu sein, haben mich die Menschen in Frankfurt und die
Frankfurter Fans wirklich überrascht. Wie sie diesen Titel verfolgt haben und
wie sie während des gesamten Turniers bei uns geblieben sind. Sie haben das
Stadion von Real Betis gefüllt, im Camp Nou waren 30.000 Frankfurter Fans.
Gegen West Ham füllten sie trotz aller Beschränkungen, nach London zu fahren,
die erlaubte Kapazität. Sie begleiteten uns während des gesamten Turniers, und
als wir zurückkamen, sahen wir, wie es in der Stadt aussah. Das hat mich
wirklich beeindruckt. Es macht mich sehr glücklich, bei einem Verein zu sein,
dessen Fans sich wirklich mit ihm identifizieren.
„Die Champions League ist die Art von Turnier, auf die man sich ein ganzes Leben vorbereitet“
Die Champions-League-Hymne, die Teilnahme mit diesen
Fans, ein gutes Team – die Aussicht darauf muss dir eine Gänsehaut bescheren.
Ja! Ich glaube, als wir anfingen, diese wichtigen Spiele in
der Europa League zu bestreiten, wollten wir natürlich den Titel gewinnen. Aber
wir wussten, dass es eine große Aufgabe für uns sein würde. Wenn man Sieger ist
und weiß, dass man in der Champions League spielt, einem Turnier mit den besten
Mannschaften der Welt, dann ist das schon eine große Sache. Was den Wettbewerb
angeht, kann man als Spieler auf demselben Niveau spielen wie die besten
Spieler der Welt. Das gibt einem Auftrieb und erfüllt einen mit Freude, denn es
ist die Art von Turnier, auf die man sich sein ganzes Leben lang vorbereitet.