Die Reise geht weiter
Eintracht Frankfurt international! Zum dritten Mal in Folge darf die Eintracht-Familie mindestens dreimal durch Europa reisen, dieses Jahr in der UEFA Europa Conference League. Möglich wurde dies durch den Erfolg gegen Levski Sofia in den Play-offs. Die „Eintracht vom Main“-Redaktion hat Mannschaft, Verantwortliche und Fans in diesen drei Tagen begleitet.
Text: Stephan Weidemeyer
Fotos: Max Galys, Stephan Weidemeyer, imago images
Es ist ruhig. Noch. Die Tribünen im weiten Rund des Wassil-Lewski-Nationalstadions liegen in der Abendsonne. Die Sitze in Gelb und zwei Blautönen, einmal heller, einmal dunkler, sind verblasst. In jeder der vier Kurven entlang der roten Leichtathletikbahn prangt ein großer gelber Löwe. Der Löwe, ein Symbol in Bulgarien, immer wiederkehrend – ob im Fußball oder fernab davon. Geht man mittig auf der Haupttribüne einige Treppenstufen hinab, einst ebenfalls gelb gestrichen, inzwischen vermischt mit dem Grau des Betons, so steht man direkt am Spielertunnel. Wenige Schritte weiter erfolgt gerade die Einweisung des Sicherheitspersonals.
Es wird vorbereitet auf etwas mehr als 40.000 Zuschauer, die meisten davon leidenschaftliche Anhänger des PFC Levski Sofia – 26-facher Meister, 26-facher Pokalsieger und mit einem großen, wenn nicht sogar dem Spiel des Jahres unmittelbar vor der Brust. Also gefühlt. Das Duell mit Eintracht Frankfurt. An diesem Abend starten die Play-offs um den Einzug in die Gruppenphase der UEFA Europa Conference League. Wenige Stunden noch, dann werden die Teams aus diesem Tunnel kommen, raus über die Laufbahn, vorbei an den dunkelgrün umrandeten Auswechselbänken, auf den Rasen. Einige Treppenstufen weiter unten, im Kabinengang, leuchten die Farben. Nichts ist verblasst. Rot-weiß-grün, die bulgarischen Nationalfarben, die Silhouetten von Löwen, an den Wänden steht in Landessprache „Herz und Seele für Bulgarien“ oder „Auf geht’s Löwen, auf geht’s Helden“.
Die Löwen und Helden, das ist Bulgariens Nationalmannschaft, die ihre Spiele im Nationalstadion austrägt. Auch das Pokalfinale wird in der 43.632 Zuschauer fassenden Anlage gespielt. Partien von Levski Sofia eigentlich nicht, in der Regel ist der Klub im knapp vier Kilometer entfernten Georgi-Asparuchow-Stadion zu Hause. Doch gegen die Eintracht nicht. Für dieses besondere Spiel, das nicht nur die eigenen Fans, sondern das ganze Land zu elektrisieren scheint, erfolgte der Umzug in das nach Bulgariens Nationalheld benannte Stadion. Wassil Lewski, der Löwenhafte, führender Revolutionär und Ideologe der bulgarischen Freiheitsbewegung in der Zeit der nationalen Wiedergeburt Mitte des 19. Jahrhunderts. 1953 wurde das Stadion eröffnet, an der südwestlichen Ecke stehen noch Reste des 1928 fertiggestellten Vorgängers, dem Junak-Stadion.
Die Stadt atmet Geschichte
Sofia, mit 595 Metern die dritthöchst gelegene Hauptstadt Europas, atmet Geschichte – inmitten all der baulichen Kontraste, die einem an so vielen Orten in Bulgariens 1,2-Millionen-Einwohner-Metropole begegnen. Beim Landeanflug, bei der Fahrt durch die einzelnen Bezirke, beim Stadtrundgang. Geprägt von unter anderem byzantinischer, osmanischer sowie sowjetischer Herrschaft. Auf der einen Straßenseite die Nationalgalerie im Stil der Renaissance, gegenüber auf der anderen Straßenseite die Nationalbank Bulgariens im kalten, monumentalen Stil. Im Zentrum, teils entlang der gelben Pflastersteine, einmalig und ein Geschenk aus Österreich-Ungarn, erzählen Gotteshäuser unterschiedlicher Epochen und Religionen (jüdisch, christlich, muslimisch = „Toleranz- Dreieck“), Museen, die Straßen und Mauern aus der Römerzeit, um die 2.000 Jahre alt, die Heilige Sofia oder der Amtssitz des bulgarischen Präsidenten ihre Geschichte(n).
So auch das Wahrzeichen der Stadt, mit seinen goldenen Kuppeln schon aus dem Flugzeug zu sehen: die Alexander-Newski-Kathedrale. Am frühen Nachmittag, noch sind es gut sechs Stunden bis zum Anpfiff des Play-off-Hinspiels, lassen sich neben Touristen auch einige Spieler der Eintracht diesen kulturellen Höhepunkt nicht entgehen.
Ansonsten lässt am Spieltag in Sofias Innenstadt wenig auf ein Fußballfest schließen. Man muss schon genau hinschauen oder hinhören. Aus dem Obergeschoss eines typischen Sightseeing-Busses ertönt die Vereinshymne „Im Herzen von Europa“, einige Eintracht-Fans strecken ihre Getränkedosen aus dem Fenster und singen aus voller Kehle. Lauter soll es erst später werden. Im Stadion. Sehr laut.
Die Eintracht in Osteuropa
Lautstarke Fußballfeste in der Fremde: Das kann die Eintracht, das kennt die Eintracht. Ein reisefreudiges Völkchen, und das auch häufiger in Osteuropa. „Fans haben uns immer begleitet. Zwar nicht in dem Maße wie jetzt, aber dabei waren sie schon immer“, sagt Rainer Falkenhain. Der 61-Jährige – langjähriger Leiter der Lizenzspielerabteilung bei der Eintracht, seit 43 Jahren Vereinsmitglied und seit über 50 Jahren Fan – hat unzählige Reisen mit den Adlerträgern unternommen. Und diese auch organisiert. Natürlich ist Falkenhain, inzwischen unter anderem Berater des Vorstands, auch in Sofia dabei. „Wenn man sieht, dass auch diesmal wieder über 1.000 Fans dabei sind – und das, obwohl Urlaubszeit ist und der Gegner erst vor acht Tagen feststand – dann ist das schon beachtlich“, sagt er.
Testspiele gegen bulgarische Klubs tauchen in den Annalen der Eintracht bislang derer sieben auf, Pflichtspiele erst eines. Am 24. Juni 1995 gastierten die Hessen in Plovdiv, 150 Kilometer südöstlich von Sofia: UEFA Intertoto-Cup. Nach Treffern von Manfred Binz, Thorsten Legat, Mirko Dickhaut und Jan Furtok stand es gegen den FC Spartak 4:0 für Frankfurt. So lautete der Endstand auch drei Wochen später gegen den litauischen Kontrahenten Panerys Vilnius. „Im Intertoto-Cup waren schon herausfordernde Reisen dabei. Zudem fand der Wettbewerb sozusagen zwischen zwei Saisons statt, entsprechend schwierig war es, das mit der Vorbereitung zu verbinden“, erinnert sich Falkenhain.
„Das Los hat entschieden, dass wir immer wieder nach Osteuropa mussten“, sagt das Eintracht-Urgestein und fügt an: „Oft hatten wir das Glück, dass wir zunächst auswärts und das entscheidende Spiel dann zu Hause gespielt haben.“ So zum Beispiel im UEFA Cup zwischen 1992 und 1994: Widzew Lodz, FC Dynamo Moskau, NK Olimpija Ljubljana und FC Rapid Bucuresti – nach Hin- und Rückspiel stand jeweils das Weiterkommen zu Buche. Von klaren Siegen über Unentschieden bis zu knappen Niederlagen in den Auswärtsspielen war alles dabei, im Gepäck zudem auch immer Anekdoten, an die sich Falkenhain sehr gut erinnert – wie etwa an die Vorreise 1993 nach Moskau: „Der Präsident hat uns empfangen, es gab direkt erst einmal ein Wasserglas Wodka. Dann wurden wir an den großen Holztisch gebeten, er selbst trug Uniform – es war der Polizeiklub.“
Einprägsame Erinnerungen
Rund um den Auswärtssieg gegen Moskau im September 1993 blieb manch einem mitgereisten Fan insbesondere das Hotel in Erinnerung. „Anlässlich des Spiels in Moskau residierten wir im größten Hotel des Universums, Hotel Rossija. Der Legende nach hat es 400.000 Betten oder mehr, in der Realität hatte es auf jeden Fall acht Eingänge“, erinnert sich Matthias Thoma, inzwischen Leiter des Eintracht Frankfurt Museums, im früheren Eintracht-Fußballmagazin „Diva vom Main" vom März 2013. Und weiter: „Nach dem großartigen 6:0 gegen Dynamo und der anschließenden Feier im Hotel-Foyer (Ost-Flügel) traf man jedenfalls die ganze Nacht über kleine versprengte Frankfurter Fußball-Touristen-Gruppen, die mit ihren Zimmerschlüsseln mit gewaltigen Nummern (‚Ich bin Zimmer 4.317, 8. Stock!‘) auf der Suche waren nach ihrer Unterkunft. (...) In jedem Stockwerk saß vor jedem Flur (...) eine Stockwerkbewacherin, die mitgebrachte Getränke konfiszierte, dafür aus ihrem Kühlschrank aber Bier, Wodka und andere Kleinigkeiten gegen Dollar feilbot.“
Auf den Kantersieg folgte zwar ein knappes 1:2 in Frankfurt, die nächste Runde war erreicht. Und das führte zu einer der prägendsten Erfahrungen, die Falkenhain mit seiner Eintracht erlebte: Dnipro Dnipropetrowsk. Während andere Klubs zuvor in Kiew landen und mit dem Bus weiterreisen mussten, hatte es die Eintracht besser. „Wir waren einer der ersten Klubs, der eine Sondergenehmigung erhalten hat, um mit dem Charterflug in der Region Dnipropetrowsk landen zu dürfen“, erinnert sich Falkenhain. Neben dem SGE-Tross, zu dem neben der Mannschaft und dem Trainerteam noch ein, zwei Masseure, der Zeugwart, der Arzt sowie der Leiter der Lizenzspielerabteilung zählte, begleiteten auch einige Edel-Fans sowie Pressevertreter den Klub. Selbstverständlich, dass auch einige – in Anführungszeichen – „normale“ Fans die Reise auf sich nahmen, teils abenteuerlich und beschwerlich.
Den gegnerischen Trainer an Board
Obligatorisch folgte in den Wochen vor dem Auswärtsspiel die Vorreise, mit dabei neben Falkenhain waren Trainer Klaus Toppmöller und ein Vertreter des Reisebüros. Heimwärts saß dann ein Passagier mehr mit an Bord: der gegnerische Trainer. Skurril, stimmt, aber so war es. Die kleine Eintracht-Delegation war freitagsabends vor Ort, schon am Samstag stand ein Heimspiel im Stadtwald an. „Mein Ansprechpartner von Dnipropetrowsk kam zu mir und hat mich gefragt, ob wir nicht deren Trainer mit nach Deutschland nehmen könnten, da der sich gerne das Heimspiel in Frankfurt anschauen würde. Also haben wir den gegnerischen Trainer mitgenommen“, erzählt Falkenhain.
Kurzum, „es war damals einfach eine andere Zeit“, wie der 61-Jährige sagt, betont aber auch direkt: „Es war eigentlich immer ein gutes Miteinander, meine Erfahrungen mit den osteuropäischen Klubs waren immer positiv.“ Nicht nur auswärts, auch zu Hause am Main. Die Eintracht stellte den Gästen einen Bus oder sprang ihnen zur Seite, wenn sich die Suche nach Hotelzimmern nicht ganz so einfach gestaltete – etwa dann, wenn gerade die IAA stattfand. „Unser damaliger Schatzmeister Wolfgang Knispel, der dem Ostblock sehr positiv zugetan war, hat immer gesagt: ‚Wenn hintenraus 3.000 bis 4.000 Mark fehlen, dann machen wir das‘“, sagt Falkenhain. Die Zeiten ändern sich.
Das späte Remis von Sofia
Zurück nach Sofia, fast 30 Jahre nach Dnipro Dnipropetrowsk. 24. August, Matchday. Dino statt Klaus Toppmöller. Etwa dreieinhalb Stunden vor dem Anpfiff versammeln sich am Wassil-Lewski-Nationalstadion die ersten Anhänger der Eintracht. Die Vorfreude auf das Spiel steigt, der Puls auch. Eintracht Frankfurt international. Ein Gefühl für das Duell mit PFC Levski Sofia? Am Vortag, in Sofias Innenstadt, mischen sich Zuversicht und Skepsis. Die Prognosen wandern von „Ich bin nicht davon überzeugt, dass wir das einfach so runterrocken – Levski spielt sehr körperlich“ über „Schwer einzuschätzen“ bis hin zu „Wir wollen den Sieg und weiter durch Europa“. Einer hat den richtigen Riecher: „Wir müssen etwas mehr Kontinuität zeigen, um hier in Sofia mindestens einen Punkt zu holen und dann das Ding in Frankfurt zu Ende zu bringen.“ So wird es kommen.
Im großen Rund, noch sind die Tribünen leer, stimmt sich der Stadion-DJ ein. Mit einem kunterbunten Mix. Mal Vereinshymnen mit modernem und traditionellem Touch, mal Pop, mal Techno, mal Green Day, Ozzy Osbourne oder The White Stripes. Mal Lautstärke vier, mal zehn. Ortszeit 18.30 Uhr, etwa anderthalb Stunden bevor der Ball rollt, füllt sich das Stadion – so auch der Gästeblock in der linken Kurve, Höhe Wassergraben und Hochsprunganlage. Bis tief in die Nachspielzeit hinein sind die mitgereisten, ihr Team anfeuernden und besingenden Frankfurter optimistisch, dann sorgt ein ansatzloser Schuss aus dem Nichts der Kategorie „Tor des Monats“ für kurzzeitige hessische Katerstimmung. Eine allzu ausgedehnte Halbwertszeit hat diese aber nicht, spätestens eine Woche später, im Frankfurter Stadtwald, verblasst sie zu einer kurzweilugen Erinnerung. 2:0, Einzug in die Gruppenphase der UEFA Europa Conference League.
Die Reise geht weiter. Wie sagt Rainer Falkenhain am Vorabend des Spiels in Bulgariens Hauptstadt am Fuße des Witoscha-Gebirges so schön: „Wir fliegen zum ersten Spiel nach Sofia und ich hoffe, dass wir bis nach Athen kommen.“ Dort steigt das UECL-Finale.