Zurück im Wettkampf

Knapp 39 Wochen, genauer gesagt 270 Tage nach seinem Achillessehnenriss ist Zehnkämpfer Andreas Bechmann im Wettkampfgeschehen zurück. Am 14. Januar gewann er beim 4. Frankfurter Wintercup den Kugelstoßwettbewerb – der Sieg ist allerdings nebensächlich, viel wichtiger dagegen ist das Vertrauen in den eigenen Körper, in den Wettkampfmodus zu kommen und vor allem wiedermitten drin dabei zu sein. Die Eintracht-Redaktion hat  Andreas neun Monate auf dem langen Weg zurück begleitet. 

Text: Nina Bickel
Fotos: Max Stümpel, Luca Weigand  

Die Erleichterung ist dem 24-Jährigen nach seinem Wettkampf im Kalbacher Sport- und Freizeitzentrum deutlich anzumerken, auch wenn er während des Wettbewerbs immer wieder hadert. „Da habe ich aber auch nicht mitbekommen, dass ich die Kugel im zweiten Durchgang auf 14,38 Meter gestoßen habe“, lacht er. Seine persönliche Bestleistung liegt bei 15,71 Metern [U23-Europameisterschaften 2021 in Tallinn; Anm. d. Red.], „aber Training ist eben nicht Wettkampf. Man fängt an nachzudenken, auch darüber, wie hart man in den vergangenen Monaten dafür gearbeitet hat. In den Modus muss ich jetzt sukzessive wieder reinkommen.“ Für diesen Tag ist Andreas nun erstmal froh, zurück zu sein, genießt es, mit seinen Freunden und Familie diesen Meilenstein erleben und noch gebührend feiern zu dürfen. Doch sein Blick ist gleichzeitig schon wieder nach vorne gerichtet: Am ersten Februarwochenende steht für ihn bei den Hessischen Meisterschaften Winterwurf der Diskuswettbewerb auf dem Programm. An der Disziplin habe er ohnehin noch einiges zu verbessern. Der Fokus liegt jedoch auf der Freiluftsaison, dann wird Andreas erstmals wieder einen Mehrkampf bestreiten. „Es ist alles auf den Zehnkampf in Arona ausgerichtet“, erklärt der Adlerträger. Der Wettkampf auf Teneriffa findet am 11. und 12. Mai statt. 

Rückblick, 19. April 2023. Stabhochsprungtraining im Kalbacher Sport- und Freizeitzentrum. Zack, Peng, ein lauter Knall aus dem Nichts. Andreas ist gerade angelaufen, hat sich auf den Sprung vorbereitet. Alle wissen sofort, dass es etwas Schwerwiegenderes sein muss, wahrscheinlich ein Riss der Achillessehne. Glücklicherweise ist an jenem Tag ein Physiotherapeut vor Ort, der mit Eis und Kompression die Schwellung lindern kann. Doch klar ist auch: Das Training und die bevorstehende Saison sind gelaufen. Dabei deutete im Vorfeld nichts darauf hin. Das Training lief eigentlich wie immer. Andreas war einige Tage zuvor aus dem Trainingslager zurückgekommen, fühlte sich fit, war gut drauf und stand zwei Wochen vor dem geplanten Saisoneinstieg. 

Bereits zwei Tage später wird der amtierende U23-Europameister nach der bestätigten Diagnose Achillessehnenriss von Professor Dr. med. Ulrich Stöckle in der Charité – Universitätsmedizin Berlin operiert, drei Tage nach der OP kann er die Klinik schon wieder verlassen. Beeindruckend ist von Beginn an aber die positive Einstellung von Andreas. „Die Diagnose war schnell klar. Das war ein harter Stopp, man wird ausgebremst. Aber mit dieser Diagnose gab es keine zwei Meinungen, nichts zu diskutieren oder schönzureden. Da ging es nur um die Frage, wer operiert. Ein Achillessehnenriss kann das Karriereende bedeuten. Die OP ist aber gut verlaufen, das ist die halbe Miete. Mein großer Dank geht an Prof. Dr. med. Ulrich Stöckle und sein Team“, erzählt er. Es mache aber keinen Sinn zu hadern, auch wenn er wusste, dass die nächsten Monate nicht leicht werden würden. Andreas vergleicht die Situation mit einem Pokerspiel: „Klar kann man sich eine bessere Hand wünschen. Am Ende muss man aber mit den Karten spielen, die man hat, und daraus das Beste machen. Und man kann auch mit schlechten Karten ein Spiel gewinnen, das ist die Mentalität, die ich mitbekommen habe. In der Sekunde, in der ich akzeptiert habe, dass ich dieses Blatt ausgeteilt bekommen habe, nämlich den Achillessehnenriss, ging es nur noch darum, die nächsten Schritte so optimal wie möglich zu gestalten.“

Dazu gehört auch, wieder zu Hause angekommen, direkt mit der Physiotherapie zu beginnen. Tagtäglich ist Andreas im Rehazentrum mediLoft anzutreffen, arbeitet von Beginn an mit Thomas Burkert zusammen, der sich vermutlich wie kaum ein anderer in die Lage des Zehnkämpfers versetzen kann. Schließlich ist Thomas Bundesligaspieler im Hockey gewesen. Im September 2004 riss er sich im Alter von 24 Jahren ebenfalls die Achillessehne, nur acht Monate später stand Thomas wieder auf dem Feld und wurde mit seinem Verein Stuttgarter Kickers Deutscher Meister – dabei steuerte er selbst einen wichtigen Treffer zum Titel bei. Dass beide auf einer Wellenlänge schwimmen, ist schon bei unserem ersten Besuch zu spüren. „Es hilft natürlich enorm, wenn dein Physiotherapeut selbst Leistungssportler war, aus eigener Erfahrung sprechen kann, weiß, was man durchmacht, und seine Geschichte ist für mich enorme Motivation“, erzählt Andreas. 

Zu Beginn zielt die Behandlung auf eine Stabilisierung der Wade durch Elektrotherapie und geht es darum, die Achillessehne elastisch zu bekommen, bereits zwei Wochen nach der OP sitzt der Adlerträger wieder auf dem Rad, parallel absolviert er Krafttraining. „Ich wollte meinen Körper so gut es geht fithalten“, erklärt er. Zwischendurch reist er seither immer wieder nach München in die Praxis von Dr. Müller-Wohlfahrt. Dort arbeitet Andreas mit ihm und seinem Team an seiner Kraftentwicklung und Statik. Dr. Müller-Wohlfahrt war es im Übrigen auch, der den Operationstermin in Berlin organisierte. In dieser Zeit geht es nicht darum, an Hundertstelsekunden oder an Zentimetern wie sonst im Sportalltag zu arbeiten. „Mein medizinisches Team und ich feierten die kleinen Siege, zum Beispiel als ich den Fuß einen größeren Winkel bewegen oder meinen Schuh endlich wegstellen konnte“, gibt Andreas Einblicke. Das seien die großen Erfolge gewesen. 

Stückchen für Stückchen arbeitet sich Andreas zurück. Im Juni 2023 endlich geht es für ihn wieder auf die Hahnstraße, endlich wieder Training mit seinem Coach Jürgen Sammert. Anfangs wird im Kraftraum gearbeitet und an der Technik gefeilt. Nach und nach aber kommen immer mehr Disziplinen hinzu, seit November trainiert der 24-Jährige sogar wieder Stabhochsprung. Und dann kommt der große Tag, der 14. Januar. Andreas ist zurück im Wettkampf – zwar nur im Kugelstoßen, aber im Wettkampf. Ein weiterer großer Sieg und Schritt nach vorn! 

Neun Monate harte Arbeit liegen hinter dem Frankfurter – harte Arbeit mit zahlreichen Entbehrungen, viel Disziplin, unzähligen Stunden Reha und Training. Nebenbei führt er sein Unternehmen weiter und schreibt seine Bachelorarbeit fertig. Doch wie schafft man das alles? „Es war schon ein beschissenes Jahr. Einen Achillessehnenriss wünsche ich keinem“, gibt er zu und fährt fort: „Aber ich habe das Beste aus meiner Situation gemacht, ich habe unglaublich viel gelernt und Erfahrungen mitgenommen. Man sagt, dass man nicht aus den Siegen, sondern aus den Niederlagen lernt. Das kann ich bestätigen. Ich denke, ich bin geerdeter, motivierter und stärker – auch mental – denn je.“ Er habe unglaublich viel Unterstützung erfahren von Eintracht Frankfurt, von seinem medizinischen Team und Stiftungen und er habe schnell gemerkt, wer wirklich da ist, wenn es mal nicht läuft und der Erfolg ausbleibt. „Ich habe viele tolle Menschen kennengelernt, ich habe das beste medizinische Team, das ich mir wünschen kann. Das ist mit Geld nicht zu kaufen. Dafür bin ich sehr dankbar. Wir haben alle Stellschrauben jetzt so gedreht, dass ich meine sportliche Karriere optimal fortsetzen kann“, blickt Andreas zuversichtlich in die Zukunft. 

Die Energie, eiserne Disziplin und positive Einstellung von Andreas ist beeindruckend. Er ist ein Kämpfer. Ein Achillessehnenriss bedeutet für viele Sportler das Karriereende. Der 24-Jährige scheint davon weit entfernt und motivierter denn je. „Wer weiß, wofür diese Zeit gut war – privat, beruflich, sportlich. Ich will, wenn ich meine Karriere beendet habe, in den Spiegel schauen können und sagen ‚Hey, du hast wirklich alles aus dir rausgeholt‘. Da spielt es keine Rolle, ob es ein Olympiasieg, Weltmeistertitel oder Deutscher Meistertitel ist. Es geht darum, sagen zu können ‚Ja, ich habe alle Chancen genutzt, ich habe alles investiert und ich habe alles gegeben‘.“  

Was auch immer die Zukunft bringen wird, vorzuwerfen hat sich Andreas wahrlich nichts. Stolz kann er schon jetzt auf alles Erreichte, seinen unbändigen Optimismus und seine Comeback-Qualitäten sein – und wer weiß, wohin der Weg ihn damit noch führen wird ...