Drei
Tage die Hände nicht gewaschen
Sie hat die Eintracht im Endspiel gesehen. Mit dem Jürgen.
Und die DFB-Elf im WM-Finale von München. Der Sommer 1974 war ein
ereignisreicher für Helga Altvater, die sich in den frühen 1970er Jahren als
erste Frankfurter Schiedsrichterin einen Namen gemacht hat. „Mir ist jetzt erst
wieder klar geworden, wie viel ich in diesem Jahr erlebt habe“, schwelgt sie im
Gespräch mit der EvM-Redaktion in Erinnerungen. Von einer Entscheidung, die sie
„ein Leben lang“ geprägt hat, der Entwicklung des Frauenfußballs und besonderen
Momenten im Sommer 1974.
In Frankfurt am Main ist Helga Altvater (geborene Kratz)
Anfang der 1970er Jahre die erste Schiedsrichterin überhaupt. Das, obwohl sie
selbst nie Fußball spielte. „In meiner Ausbildungsabteilung der Dresdner Bank
waren Jungs, die zum Teil schon in höheren Auswahlen spielten und sich montags
nicht mit mir über Fußball unterhalten wollten. Frauenfußball war noch nicht
angesagt und ich ließ mich von einer kleinen Anzeige in einer Wurfzeitschrift
inspirieren“, erklärt Altvater ihren Start ins Schiedsrichterdasein im Alter
von 17 Jahren.
„Nach bestandener Prüfung stand ich zum ersten Mal in
meinem Leben auf einem Fußballplatz und pfiff unter Anleitung eines älteren
Kollegen ein E-Jugendspiel.“ Ihr Schiedsrichter-Dress ließ sie sich von ihrer
Mutter zusammennähen, dazu trug die junge Unparteiische einen schwarzen Rock.
Sie arbeitete sich nach und nach zur A-Jugend hoch, in der sie 1974 ihr
allererstes Spiel zwischen Goldstein und dem SKG Frankfurt leitete.
Im gleichen Jahr fand in der Bundesrepublik Deutschland und
WestBerlin die Weltmeisterschaft der Männer statt. „Unsere Frankfurter
Schiedsrichtervereinigung stand natürlich Kopf mit der WM im eigenen Land“,
erinnert sich Altvater, die im vergangenen Juni ihren 70. Geburtstag feierte.
„Alle WM-Schiedsrichter wohnten in einem Hotel in der Isenburger Schneise. Der
Vorstand hatte alle Referees zu einem gemütlichen Abend in eine Neu-Isenburger
Lokalität eingeladen, mein erster ‚internationaler‘ Kontakt“, verrät sie. Und
während Schiedsrichterinnen in Deutschland 1974 eine Rarität waren, seien sie
„für die Kameraden aus Afrika und Asien eine Sensation“ gewesen. Altvater
schmunzelt: „Mein Vater und ich durften dann im offiziellen Schiedsrichterbus
zu einem WM-Spiel mitfahren. Eine Motorradeskorte führte uns an. Heute ist das
undenkbar.“
Der Sommer 1974 war ein „schöner im Kreise der Familie“,
sagt Altvater, die Besuch von ihrer Tante aus Schleswig-Holstein bekam und ihre
Ausbildung bei der Dresdner Bank gerade beendet hatte. Die 20-Jährige entschied
sich, in die Werbeabteilung des Unternehmens zu gehen. „Da sich die meisten
Mitarbeiter nicht für Fußball interessierten, übernahm ich die zentralen
Aufgaben für alle Filialen und Zweigstellen. Als Dankeschön schenkte mir mein
Chef Karten für das Polen-Spiel in Frankfurt und zu meinem Geburtstag Tickets
für das Finale in München.“ Um Karten für das Eröffnungsspiel in Frankfurt zu
ergattern, hatte sie „stundenlang angestanden“, weiß Altvater noch 50 Jahre
später.
Deutschland gewann das Finale in München gegen die
Niederlande mit 2:1. Franz Beckenbauer streckte den neuen WM-Pokal, bestehend
aus massivem 18-karätigen Gold, in die Höhe. Es galt die Regel, dass der
amtierende Weltmeister die Trophäe zunächst bis zur nächsten WM behielt und im
Anschluss eine Nachbildung bekam – der originale Pokal blieb der Mannschaft
also vorerst erhalten.
Altvater sagt: „Eigentlich durften ihn nur die Spieler
anfassen.“ Ihr Arbeitgeber, die Dresdner Bank, war zu diesem Zeitpunkt aber die
Hausbank des DFB, in ihrem Tresor war der Pokal eingeschlossen. „Es hatte sich
herumgesprochen, dass ich mich für Fußball interessiere. So bekam ich einen
Anruf und hatte wenig später ein Bild zusammen mit dem WM-Pokal. Ich hatte mir,
glaube ich, drei Tage lang nicht die Hände gewaschen“, lacht die Autogrammjägerin.
Autogrammjägerin deshalb, weil sie mit einem
„Autogrammball“, den sie von ihren Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen
hatte, auf Signaturenfang ging. Sämtliche Spieler unterschrieben darauf. „Die
Mannschaft trainierte im Isenburger Sportpark und ich erzählte ihnen was vom
guten Zweck, damit ich die Unterschriften bekam“, schmunzelt Altvater, die
ihren Autogrammball mit auf das Trainingsgelände nahm und darauf auch die
Frankfurter Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein unterschreiben ließ. Ein
anderes Mal bekam sie vom Kapitän Franz Beckenbauer ein signiertes Trikot
überreicht.
Doch zurück zu Grabi und Holz: Nicht nur erlebte Altvater
den WM-Sieg der beiden Eintracht-Ikonen mit. Auch war sie beim DFBPokalsieg der
Adlerträger wenige Wochen später dabei. „Zu den Pokalspielen der Zeit, die ja
noch nicht in Berlin stattgefunden haben, habe ich mir jeweils Karten besorgt.
Am 17. August 1974 war ich in Düsseldorf zum Finale im Stadion. Es ist immer
wieder ein tolles Erlebnis gewesen, mit den Fans gemeinsam anzureisen, ins
Stadion zu gehen und mit ihnen zu feiern.“ Auch das Viertelfinale gegen den 1.
FC Köln sowie das Halbfinale gegen den FC Bayern München sah Altvater live vor
Ort. Es war ein ereignisreicher Sommer für die erst 20 Jahre junge Frau.
Der Frauenfußball selbst kam mittlerweile etwas mehr ins
Rollen, nachdem 1971/72 erstmals ein geregelter Spielbetrieb auf die Beine
gestellt wurde. 4.000 Frauen spielten im WM-Jahr unter dem Dach des Hessischen
Fußball-Verbandes, rund 250 Mannschaften waren bisweilen registriert. „Es war
ein mühsamer Start“, weiß Altvater. „Immer wieder wurden dem Frauenfußball
Steine in den Weg gelegt.“
15 Jahre leitete sie Spiele als Schiedsrichterin – eine
Zeit, die sie nicht missen möchte. „Mein Mann hat etwas länger gepfiffen als
ich, doch uns beide hat es ein Leben lang geprägt. Es gab mir eine gewisse
Stärke, mich als Frau in der Männerdomäne Fußball durchzusetzen, und hat mich
gelehrt, wie man damit umgeht, wenn einem Steine in den Weg gelegt werden. Ich
habe mich immer durchgeboxt.“
1993 ist Helga Altvater die erste Frau im Vorstand des
Hessischen Fußball-Verbandes, auch engagiert sie sich als Damenreferentin im
Süddeutschen Fußball-Verband und im DFB-Frauenausschuss. „Ich sehe, dass es
viel gebracht hat. Ein Leben lang habe ich gepredigt, dass Frauen ‚Ja‘ sagen zu
einer Führungsposition.“ Altvaters Engagement hat den Weg für die kommenden
Generationen geebnet, in den Vereinen des DFB sind mittlerweile mehr als
845.000 Frauen gemeldet. 4.317 Frauen- und 4.836 Mädchenmannschaften nehmen am
aktiven Ligabetrieb teil.
Die Entwicklung von 1974 bis heute ist deutlich zu sehen,
doch Altvater weiß: „In den oberen Ligen gibt es perfekte Angebote für
Spielerinnen. In den unteren Ligen ist es weiterhin sehr mühsam.“ Daran gelte
es für die Verbände weiter zu feilen, auch 50 Jahre nach der ersten
Schiedsrichterin in Frankfurt.