„Biertrinken in der Eintracht-Kneipe gelernt“

Bekannt ist Sylvia Schenk als Juristin für Compliance, Menschenrechte und Sportrecht, ehemalige Präsidentin des Bundes Deutscher Radfahrer und als Vorsitzende von Transparency International (2007 bis 2010). Im Sommer 1974 war sie Mittelstrecklerin bei Eintracht Frankfurt und amtierende Deutsche Meisterin im Crosslauf. Im Interview mit der „Eintracht vom Main“ spricht Schenk über wegweisende Momente 1974, Erlebnisse als Eintrachtlerin in der Leichtathletik-Abteilung und mit den Fußballern, Demos im Westend und – der Blick in die Zukunft – die Chancen auf Olympische Spiele in Deutschland. Sylvia Schenk feiert in den 1970er Jahren Erfolge im Leichtathletik-Trikot der Eintracht. Rechts bei einem DFB-Kongress im Jahr 2022.

Bei Transparency International leitet Sylvia Schenk heute die Arbeitsgruppe Sport und setzt sich nicht nur in dieser Rolle seit vielen Jahrzehnten für Transparenz und die konsequente Bekämpfung von Doping ein; seit 2022 gehört sie auch dem Menschenrechtskomitee des IOC an. 1974 war die gebürtige Rotenburgerin (an der Wümme) aber aus anderen Gründen einem breiten (TV-)Publikum präsent – weil sie als Leichtathletin von Eintracht Frankfurt große Erfolge feierte. Unter anderem nahm sie vor 50 Jahren an der EM in Rom teil, zuvor war sie bereits bei den Olympischen Spielen in München 1972 gestartet und Deutsche Meisterin über 800 Meter geworden.

Frau Schenk, lassen Sie uns über den Sommer 1974 sprechen. Wie sind Ihre Erinnerungen allgemein?

1974 war für mich ein Umbruchs- und Orientierungsjahr. Ich stand kurz vor dem Beginn des 1. Juristischen Staatsexamen, das ich im November 1975 abgeschlossen habe. Ich war seit Herbst 1971 wegen der besseren sportlichen Möglichkeiten bei der Eintracht. Im adh [Allgemeiner Deutscher Hochschulsportverband; Anm. d. Red.] wurde ich 1973 Aktivensprecherin und fing zunehmend an, mich auch politisch zu engagieren. Das hat sich alles in den Folgejahren noch intensiviert, zum Beispiel bin ich ab 1975 im adh-Vorstand gewesen. Bei der Eintracht habe ich regelmäßig die Mitgliederversammlungen besucht.

Die Eintracht haben Sie also primär durch die Leichtathletik näher kennengelernt, Sie gehörten im Mittelstreckenlauf zur deutschen Spitze. Heute ist die Abteilung sehr erfolgreich, sendet drei Athleten zu den Olympischen Spielen und gehört zu den erfolgreichsten deutschen Vereinen. Wie war die Abteilung damals aufgestellt und unter welchen Bedingungen haben Sie dort trainiert?

Damals hatten wir eine starke Geher-Gruppe, Horst-Rüdiger Magnor und Wilfried Wesch waren ebenfalls in München bei den Spielen dabei. Abteilungsleiter war Joachim Böttcher, zugleich Lehrer am Lessing-Gymnasium und Sportreporter beim Hessischen Rundfunk. Ansonsten war das eine völlig andere Situation als Spitzensport heute. Wir waren offiziell Amateure, die Eintracht zahlte mir allerdings ein Ein-Zimmer-Apartment und auch von den Schuhfirmen – bei mir adidas – gab es Zahlungen. Der Riederwald war in keinem guten Zustand, insbesondere in den Umkleiden. Irgendwann haben wir in der Frauenumkleide einen neuen Duschvorhang besorgt und auch sonst einiges in Ordnung gebracht. Dafür konnten wir immer mal die Sauna nutzen und den Masseur der Fußballprofis, Werner Etzold, um Rat fragen, wenn es irgendwo zwickte. Es war alles sehr familiär. Zwischen der Eintracht und den Leichtathleten des FSV beziehungsweise dann der LG Frankfurt gab es allerdings eine heftige Konkurrenz.

Wie war Ihre Trainingsgruppe aufgestellt und wie haben Sie es geschafft, Deutsche Meisterin zu werden?

Generell habe ich versucht, möglichst viele Scheine im Wintersemester zu machen, um im Sommer mehr Zeit für den Sport zu haben. Ich habe meistens mit den Männern trainiert. Heimtrainer war Franz Eckhardt, dessen Tochter Uta Eckhardt-Tortell Jahre später auch als Läuferin erfolgreich war [unter anderem Hallen-EM-Sechste über 1.500 Meter; heute gehören auch mehrere Enkel von Franz Eckhardt aus der Familie Tortell zur (erweiterten) deutschen Spitze; Anm. d. Red.]. Vor den Olympischen Spielen 1972 hatte ich maximal sechsmal pro Woche trainiert, meine Leistungen im Training waren immer deutlich schwächer als dann im Wettkampf. Das hat viele verwundert und oft auch Neid hervorgerufen. Besonders fleißig war ich also nicht, aber konsequent. Ab 1973 habe ich das Training gesteigert, bin insbesondere auch längere Strecken im Training gelaufen, das war aber eher kontraproduktiv. Trainiert habe ich am Riederwald auf der Aschenbahn oder im Wald. Auch das Gesellige kam nicht zu kurz.

Erzählen Sie bitte.

Nach dem Training wurden in der EintrachtKneipe oft noch ein oder eher mehrere Stiefel getrunken. So habe ich das Biertrinken gelernt, denn das haben wir als Trinkspiel durchgeführt [Schenk googelt noch einmal die Regeln und liest vor: „Beim Stiefeltrinken wird ein stiefelförmiges Glas in einer Runde herumgereicht. Beim Trinken besteht die Schwierigkeit darin, dass sich ein Unterdruck bildet, sobald nur noch im Fußbereich Bier ist.“ Es gibt dann verschiedene Regeln, wie das Spiel endet, zum Beispiel der vorletzte Trinker muss die nächste Runde bezahlen; Anm. d. Red.]. Das ist heute auch eher nicht vorstellbar unter Leistungssportlern.

Wie war der Kontakt zu den Fußballern der Eintracht damals?

Über die „Montagsmaler“ ab Frühjahr 1974 hatte ich engen Kontakt zu den Spielern, Thomas Rohrbach und Jürgen Grabowski waren im Rateteam dabei.

Die „Montagsmaler“ dürften insbesondere den jüngeren Leserinnen und Lesern nicht mehr bekannt sein …

Die Sendung wurde zunächst in Südwest 3 ausgestrahlt und ging 1974 ins Abendprogramm des Deutschen Fernsehens über. Dabei traten Teams mit Spielern von Fußballbundesligisten gegeneinander an. Manfred Birkholz, Pressesprecher der Eintracht und Herausgeber der Eintracht-Zeitung [Pionier des Sportmarketings und der Sportkommunikation – so der kicker in seinem Nachruf 2020; Anm. d. Red.], hatte damals eine Werbeagentur und hat auch PR-Arbeit für die Spieler gemacht. Er wurde der „Mannschaftsleiter“ und stellte das Eintracht-Team zusammen. Ich gehörte bei den drei Sendungen bis zum Finale dazu, zusammen mit Klaus Schmittinger, Nationalspieler aus unserer Tischtennisabteilung, Thomas Rohrbach und Jürgen Grabowski. Gert Trinklein war auch mal dabei. Hinterher haben wir den Abend immer noch gemütlich ausklingen lassen.

 

„Grabi war immer sehr glücklich, wenn er etwas erraten hat.“ -- Sylvia Schenk --

 

Gibt es einen besonderen Moment, an den Sie sich noch erinnern?

Grabi war immer sehr glücklich, wenn er etwas erraten hat. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich das „Wort zum Sonntag“ zeichnen musste, er es dann sehr schnell erraten und sich unglaublich darüber gefreut hat.

Wie haben Sie die Fußball-WM oder auch den Pokalsieg der Eintracht verfolgt? Hartmut Scherzer berichtete uns beispielsweise über die WM, dass sie sicherheitstechnisch noch sehr unter dem Eindruck des Attentats bei den Olympischen Spielen 1972 in München stand.

Ich war nicht im Stadion, von daher kann ich das nicht vergleichen. Das Attentat in München hat natürlich auch bei mir Eindrücke hinterlassen, wurde aber totgeschwiegen und musste jeder mit sich ausmachen. Verfolgt habe ich die WM natürlich. Ich erinnere mich, dass wir ein Spiel mit rund 20 Leuten bei einem Freund von Dr. Harald Böhm geschaut haben. Ein Anwalt, den ich von der Eintracht her kannte, er war später Vizepräsident. Ansonsten gab es noch nicht wie heute das Public Viewing.

Was waren für Sie als sportliche, aber auch politisch interessierte und am Anfang Ihrer sportpolitischen Tätigkeiten stehende Person ansonsten die Themen oder bewegende Ereignisse im Sommer 1974? Stichworte Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt, besetzte Häuser in der Frankfurter Schumannstraße, Ihre Tätigkeit im adh?

Da kommen wir wieder dazu, warum ich das Jahr 1974 in meine Umbruchszeit einordnen würde. Ich hatte vorher Spitzensport gemacht und studiert, wenig nach links und rechts geguckt. Dann kam langsam die Phase, in der ich geschaut habe, was die Gleichaltrigen machen. Willy Brandts Rücktritt war einschneidend. Ich war zum Entsetzen meiner Mutter mit „Willy wählen“-Button 1972 in Treysa durch die Stadt gezogen, wo ich Abitur gemacht hatte und meine Eltern damals noch wohnten. 1974 zogen sie nach Kassel, weil mein Vater dort Divisionsarzt wurde – noch ein Stück Umbruch also in diesem Jahr. SPD-Mitglied bin ich erst später geworden. Ich wollte schon zu meiner Zeit als Vertreterin in den Sportverbänden etwas verändern, insbesondere beim Thema Frauen im Sport herrschte großer Nachholbedarf. Da habe ich gemerkt, dass das nur geht, wenn man sich auch politisch engagiert [Schenk war später für die SPD Sportdezernentin der Stadt Frankfurt und unterstützte beispielsweise von Beginn an den 1. FFC Frankfurt; Anm. d. Red.]. Die besetzten Häuser in der Schumannstraße, da muss ich etwas schmunzeln.

Warum?

Durch meine Auftritte bei den „Montagsmalern“ haben mich die Polizisten erkannt, als wir dort demonstriert haben. Aber es war wichtig, sich dort zu zeigen, um Teile des Westends zu erhalten. Dieser Stadtteil war damals freigegeben worden für Bürobauten, alte Gründerzeitvillen wurden abgerissen. Die AG Westend hat dafür gekämpft, möglichst viele und damit auch den Charakter des Westends zu erhalten. Das wurde erreicht und stattdessen ausgewiesen, wo in Frankfurt Hochhäuser errichtet werden und wo die alte Struktur bleiben soll. Dies zeigt sich heute noch und ist wichtig für das Frankfurter Stadtbild.

Zum Abschluss noch eine aktuelle sportpolitische Frage an Sie als begeisterte Sportlerin und als Expertin für Frankfurt, für Sport und Sportpolitik. Nach den tollen Sportereignissen in Deutschland wie zuletzt den European Championship in München 2022, einem Zusammenschluss von Europameisterschaften in neun Sportarten, oder der UEFA EURO 2024, die Sie als Volunteer in der Fanzone hautnah erlebt haben: Werden wir eines Tages nochmal Olympische Spiele in Deutschland, vielleicht sogar in Frankfurt sehen?

Ich brenne dafür, nochmal Olympische Spiele in Deutschland zu erleben. So wie sich der DOSB [Deutsche Olympische Sportbund; Anm. d. Red.] und die Politik gerade anstellen, hat das aber leider kaum Chancen. Deutschland ist international schwach aufgestellt, durch Auftritte wie zum Beispiel beim FIFA World Cup in Qatar wurde viel verdorben. Deutschland muss erst wieder lernen, wie man internationale Sportpolitik macht, und nicht nur als Besserwisser auftreten. Das IOC sucht Städte mit einer Vision, die durch die Olympischen Spiele strategisch vorangebracht wird. Es geht um das Ziel einer zukunftsfähigen Stadt, wozu angesichts des Klimawandels neben Resilienz neue Ideen zu Urbanität, Mobilität, Digitalisierung und umfassende Nachhaltigkeit gehören. Maximale Transparenz, hohe soziale Standards und eine breite Beteiligung der Bevölkerung sowie zivilgesellschaftlicher Organisationen an allen Schritten sind unerlässlich. Die bisherigen Überlegungen in Deutschland sind viel zu sehr auf das Kleinklein fixiert. Und aus lokaler Sicht: Frankfurt ist von der Größe her und angesichts fehlender Veranstaltungsstätten sowieso kein Kandidat.