„Wir spielen
beide, Grabi und Ich“
Es gibt wohl kaum einen Sportjournalisten aus dem
RheinMain-Gebiet, wenn nicht sogar weit darüber hinaus, der mehr internationale
Sportereignisse live erlebt hat als Hartmut Scherzer. Der Frankfurter, geboren
1938, berichtet seit 66 (!) Jahren aus den Stadien, Hallen und weiteren
Wettkampfstätten in aller Welt und über die Ikonen. Für die „Eintracht vom
Main“ erzählt er drei Geschichten von 1974.
Sein Erlebnisprotokoll reicht von 16 Fußballwelt- und elf
-europameisterschaften, 21 Olympischen Spielen, über 33 Mal die Tour de France
bis hin zu Muhammad Alis Jahrhundertkämpfen, die er als ehemals im Boxen auf
hessischer sowie nationaler Ebene erfolgreicher Athlet besonders genau verfolgt
hat. Als er 1973 von der amerikanischen Nachrichten-Agentur United Press International
(UPI) als Ressortleiter zur Abendpost/Nachtausgabe (AN) wechselte, wurde die
Eintracht sein Hauptthema. Auch nach der Einstellung der AN 1988 widmete sich
Scherzer als freier Journalist den großen Spielen der SGE. Sein erstes
Eintracht-Erlebnis hatte er vor fast genau einem Dreivierteljahrhundert am
Bornheimer Hang, als Elfjähriger besuchte er 1949 das Oberligaspiel gegen den
1. FC Nürnberg. Da waren die Meisterschaftsspieler von 1959 noch nicht mal im
Kader.
Seine Tour-de-France-Zeit kam erst später, der Sommer 1974
war für Scherzer dennoch äußerst aufregend. In drei Teilen erinnert sich der
86-Jährige für die „Eintracht vom Main“ an Grabowski und Hölzenbein bei der WM,
an den DFB-Pokalsieg der Eintracht kurz danach und an Alis unvergessenes Duell
mit George Foreman, den „Rumble in the Jungle“ – der zum aufregenden
Sportsommer Scherzers trotz fehlendem Eintracht-Bezug (den gab’s 1966, bei Alis
Kampf gegen Karl Mildenberger im Waldstadion) natürlich dazugehörte.
Von Hartmut Scherzer
Scherzer
Teil 1 - Bei Holz auf dem Zimmer angerufen
Malente nach Mexiko kam einem vor wie die Ausnüchterung
nach einem rauschenden Fest. Die zehnte Fußball-Weltmeisterschaft 1974 in
Deutschland blieb zunächst kühl und nüchtern. Erst das Endspiel, die
vorgegebene Eroberung des Titels im Münchner Finale gegen den Nachbarn
Niederlande (2:1), löste die nationale Begeisterung aus. Die Macher hatten ihr
Schauspiel durchsetzt mit Polizisten, Soldaten und Geheimdienstlern. Das Alibi
lieferten das Blutbad bei den Olympischen Spielen zwei Jahre zuvor in München
und die angebliche Bedrohung auch dieses Spektakels durch Terroristen. Der
Fußball-Fan musste schon sehr dickhäutig sein, um in einem Stadion, in dem es
mehr Pistolen als heiße Würstchen gibt, wahre Freude zu finden.
Dann die 0:1-Demütigung im „Bruderkampf“ gegen die DDR.
Franz Beckenbauer, so die Legende, übernahm das Kommando von Helmut Schön und
sortierte vermeintliche Versager aus. Ich musste mich weniger um Beckenbauer
als um Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein kümmern. Mein Arbeitgeber war die
Frankfurter Boulevardzeitung „Abendpost/ Nachtausgabe“. Die Eintracht war zu
meinem Geschäft geworden. Das Hin- und Herhetzen zwischen den Stadien der
Republik und der Redaktion in Frankfurt ließ keine Zeit für WMRomantik wie im
chilenischen Santiago 1962, englischen Sheffield 1966 oder mexikanischen León
1970.
Die Fußballnation rätselte nach der Wasserschlacht von
Frankfurt gegen Polen (1:0) vor dem Finale: Wer spielt – Jürgen Grabowski,
Bernd Hölzenbein oder Jupp Heynckes? „Grabi“ hatte sich als „Opfer“
Beckenbauers gefühlt. Der sensible Ballakrobat saß gegen Jugoslawien auf der
Tribüne, gegen Schweden in der zweiten Finalrunde immerhin wieder auf der Bank.
Der Verschmähte sollte zum Retter einer beim Stand von 2:2 taumelnden
Mannschaft werden. 23 Minuten vor Schluss wechselte Schön endlich den immer
schwächer werdenden Düsseldorfer Lokalmatador Dieter Herzog gegen Grabowski
aus. „Der beste Auswechselspieler der Welt“ in Mexiko wurde schlagartig seinem
ungeliebten Ruf gerecht. Kaum hatte der Eintracht-Kapitän den ersten
Ballkontakt, da schoss er auch schon das 3:2, „in die kurze Ecke. Der Ball
streifte noch den Pfosten“, erinnerte sich „Grabi“. „Das war das Tor meines
Lebens.“
Die endgültige Aufstellung für das Endspiel war geheime
Kommandosache. „Wir spielen beide, der Grabi und ich“, verriet mir Hölzenbein
nach dem Abschlusstraining in München die Entscheidung Schöns. In der Redaktion
bastelte der Chef vom Dienst für die Titelseite der Sonntagsausgabe die
„Frankfurter Flügelzange“. Die Nachrichtendienste aber hielten an der Rückkehr
des genesenen Heynckes fest. Sie beriefen sich dabei auf Insiderinformationen
Hennes Weisweilers. Der Chefredakteur vertraute den Agenturen. Die Zange fiel
seinem Zweifel zum Opfer. Zunächst. Denn ich rief den Informanten an. Damals
gab es zwar noch kein Handy, aber – im Gegensatz zur Sportschule Malente – in
der Sportschule Grünwald Telefone auf den Zimmern der Spieler. Hölzenbein
wiederholte: „Du kannst dich 100-prozentig darauf verlassen. Der ‚Lange‘ hat es
mir heute (Samstag) früh gesagt.“ Der „Lange“, das war Helmut Schön.
Und dann wurde der Maulwurf zur Schwalbe und flog am 7.
Juli 1974 – an Jürgen Grabowskis 30. Geburtstag – buchstäblich in die
Geschichte. Drei Niederländer konnten die Nummer 17 nicht stoppen. Da fuhr Wim
Jansen die Grätsche aus. Der Abflug führte zum Elfmeter und zum Ausgleich durch
Paul Breitner. Die Wende. Gerd Müller schoss das 2:1. Deutschland war
Weltmeister. Die vermeintliche Schwalbe aber ist zur Legende geworden wie das
Wembley-Tor. Für den Tag danach war ein Empfang vor dem Frankfurter Römer
angesetzt. Rund 10.000 Menschen wollten die Weltmeister feiern. Doch die
Münchner hatten keine Lust und blieben zu Hause. Auch die anderen Westdeutschen
wollten nichts wie heim. So kam es, dass nur zwei Spieler auf dem Rathausbalkon
der jubelnden Menge zuwinkten: Jürgen Grabowski und Bernd Hölzenbein. Die
beiden „Frankfurter“ Champions.
Scherzer
Teil 2 - Verhängnisvoller Trikottausch
Wegen der Weltmeisterschaft war das DFBPokalfinale 1973/74
Eintracht Frankfurt gegen den Hamburger SV für den 17. August in Düsseldorf
angesetzt worden. Dieses Endspiel der letzten Saison eine Woche vor der neuen
bot Absurdes. Trainer Dietrich Weise hatte also einen veränderten Kader zur Auswahl.
Vom alten Stamm wurde beispielsweise der Hüne Uwe Kliemann, Turm in der
Halbfinal-Schlacht gegen Bayern München (3:2), um seinen Pokallohn gebracht.
Der Berliner war zur Hertha zurückgekehrt und saß nun nur als Ehrengast auf der
Tribüne. Die andere Groteske: Der von Schalke geholte Klaus Beverungen wurde in
seinem ersten Pflichtspiel für die Eintracht gleich deutscher Pokalsieger.
Damit noch nicht genug der Kuriositäten. Erstmals hatte die
Eintracht einen Sponsor gewonnen. Premiere beim Pokalendspiel in Düsseldorf,
bei der über die Hälfte der 53.000 Zuschauer dem Frankfurter Lager zuzuordnen
waren: Die Mannschaft trug in Versalien den Namenszug REMINGTON (amerikanischer
Hersteller von elektrischen Haarschneidern) auf dem Trikot. Nach dem
Schlusspfiff und mitten im Frankfurter Freudentaumel bat ein Hamburger Spieler
Jürgen Grabowski, das Trikot zu tauschen. Bestens gelaunt, völlig arg- und
ahnungslos, ging er sofort auf den Tausch ein. Der Weltmeister war schließlich
alles andere als ein arroganter Schnösel.
Für die Eintracht-Bosse und vor allem für Pressechef
Manfred Birkholz, dessen Agentur den Deal zustande gebracht hatte, wurde die
Siegerehrung somit zur mittleren Katastrophe. Trauma statt Triumph fürs
Marketing: Eintracht-Kapitän Jürgen Grabowski stemmte inmitten jubelnder
Weißhemden den Pokal in die Höhe – im blauen HSV-Trikot mit der Werbung CAMPARI
auf der Brust. Von seinen weit über 600 Gegenspielern war ihm ein Name
unvergessen geblieben: „Der Hamburger Spieler, der damals mit mir das Trikot tauschte,
hieß Hans-Jürgen Ripp.“
Scherzer
Teil 3 - Rumble in the Jungle
Die Tour de France (27. Juni bis 21. Juli 1974), die ich
seit 1960 in der Redaktion der UPI an der Konstablerwache bearbeitet hatte,
konnte ich nun am Fernseher genießen; die letzten zwei Wochen der Triumphfahrt
des großen Eddy Merckx. Erst ab 1977 sollte dank Didi Thurau das größte
RadsportSpektakel fortan meine Sommer prägen.
Stattdessen das Spätsommer-Highlight „Rumble in the
Jungle“, der Jahrhundertboxkampf in Kinshasa zwischen George Foreman und
Muhammad Ali. Angesetzt war der Fight auf den 25. September, wurde aber
verschoben auf den 30. Oktober wegen einer Augenbrauenverletzung des Champions
Foreman. Also zweimal Hin- und Rückflug in die Republik Zaire, die heute die
Demokratische Republik Kongo inmitten Afrikas ist. Zuerst London – Kinshasa und
vier Wochen später, kostenlos (!) dank Diktator Mobutu, von Paris aus wieder in
die heute größte Stadt Afrikas.
Ali freute sich über die Journalisten, die trotz der
Verlegung nach Zaire angereist waren. Ohne Medien langweilte er sich. Der
„Champ“ lud mich zu einem Exklusiv-Interview in seinen Bungalow am Fluss Kongo
ein. Ein amerikanischer Kollege durfte beim Plaudern auf der Couch nur zuhören,
keine Frage stellen. „Der Größte aller Zeiten“ schlug in einer schwülen
afrikanischen Tropennacht – der Kampf begann daher um 4 Uhr morgens – „Big
George“ in der achten Runde k.o. und wurde nach sechs Jahren (inklusive drei
Jahre Verbannung wegen Wehrdienstverweigerung) wieder Weltmeister im Schwergewicht.
Was für ein aufregender JournalistenSommer 1974!
Wer mehr über die Erlebnisse von Hartmut Scherzer erfahren
möchte, auch mit weiteren Sportlegenden wie Franz Beckenbauer, Lance Armstrong
oder Wladimir Klitschko, dem sei das Buch „Welt Sport. 60 Jahre Erlebnisse
einer Reporter-Legende“ empfohlen.
Erschienen im Societäts-Verlag. ISBN: 978-3-95542-384-1.